Die Rettung
ein wenig gedöst zu haben, war sich aber nicht sicher. Meistens warf sie den Kopf nur ruhelos von einer Seite auf die andere.
Endlich ging die Sonne auf, malte bizarre Muster an die Decke und wärmte Barris Gesicht. Sie musste die Augen zukneifen, weil die Strahlen sie blendeten. Unwillkürlich begann sie, über die Welt und ihren Platz darin nachzudenken. Jahrzehnte lang war sie jeden Morgen neben Kenneth erwacht, voller Furcht, er könne unter einem gewaltigen Kater leiden und sie mit einem Schwall von Bosheiten überschütten. Schon seit Jahren hatte sie nicht mehr gewagt, zu Bett zu gehen, ehe er einge-schlafen oder aufgrund seines Alkoholpegels einfach umgekippt war. Mehr als einmal hatte er sie mit seinem Gürtel verdroschen, weil sie die Frechheit besessen hatte, sich schlafen zu legen, solange er noch wach war.
Doch das Schlimmste war, dass sie mittlerweile glaubte, Kenneth habe Dylan aus dem Haus getrieben - dass ihr Sohn nach Schottland geflüchtet war, um seinem Vater zu entkommen. Und dort war er dann von Räubern ermordet worden, was zu der logischen Schlussfolgerung führte, dass Kenneth die Schuld am Tod ihres Sohnes trug. So wie sie zu dieser Erkenntnis gelangt war, begriff sie auch, dass sie ihrem Mann niemals verzeihen würde. Sie konnte ihm alles andere vergeben, was er ihr angetan hatte, aber Dylans Verlust konnte sie nicht verwinden. Und nun war sie am Ende ihrer Kräfte.
Viel zu lange hatte sie in ständiger Furcht dahinvegetiert, und heute, an diesem herrlichen Morgen, den sie zum ersten Mal seit langer Zeit bewusst erlebte, erkannte sie, dass sie von nun an Teil einer Welt sein wollte, in der der Sonnenaufgang nichts weiter verhieß als den Auftakt zu einem schönen Tag.
Cody kam am späten Vormittag und steckte den Kopf zur Tür herein.
»Hallo?«
»Komm nur herein.« Barri versuchte sich mühsam aufzurichten, dann fielen ihr die Schaltknöpfe wieder ein, mit deren Hilfe sich das Bett verstellen ließ. Ungeschickt nestelte sie daran herum, bis sie sich in eine sitzende Position gehievt hatte. Gleichzeitig zupfte sie an ihrem Haar herum, um es halbwegs in Ordnung zu bringen - ein hoffnungsloses Unterfangen. Sie hatte nicht geduscht, kein frisches Make-up aufgelegt und keinen Kamm zur Hand. Am liebsten wäre sie schnurstracks nach Hause geeilt, um ein Bad zu nehmen, fürchtete aber, Kenneth noch dort anzutreffen. Sie war noch nicht bereit, ihm gegenüberzutreten. Es gab vorher noch viel zu regeln.
Doch Cody trat an ihr Bett und hielt ihr eine kleine Plastiktüte mit der Aufschrift eines Drugstores hin. »Ich habe Ihnen ein paar Sachen mitgebracht, die Sie vielleicht brauchen.«
In der Tüte befanden sich ein Handspiegel, eine Haarbürste, einige Haarnadeln und ein Lippenstift. Die Farbe entsprach zwar nicht ganz Barris Geschmack, doch sie durfte sich wohl kaum beklagen. Was für ein nettes Mädchen Cody doch war! Wieder einmal wünschte sie, Dylan hätte sie geheiratet. Wäre das der Fall gewesen, wäre er vielleicht nicht nach Schottland gefahren ,..
Energisch schüttelte sie diese Vorstellung ab. Gedanken wie >wenn doch nur< halfen nie, sie bewirkten nur, dass man sich unnötig quälte, Cody ließ sich auf dem Stuhl neben dem Bett nieder und seufzte erleichtert. Barri begann ihr Haar auszubürsten. Immer noch klebte ein getrocknetes Soßenklümpchen darin; sie zerrte daran, bis sie eine Haarsträhne ausgerissen hatte, rollte sie zusammen und legte sie auf ihren Nachttisch. Als sie ihr Haar gekämmt hatte, fasste sie es am Hinterkopf in einen Knoten. Anders konnte sie ohne Lockenwickler keine Ordnung in den schwarzsilbernen Wust bringen. Unwillig zupfte sie an ein paar Strähnen herum, die den Nadeln entwischten und ihr wirr in die Stirn fielen.
»Lassen Sie's gut sein«, meinte Cody. »Sie sehen prima aus.«
Seufzend fuhr Barri fort, ihr Haar zu richten. »Es ist total verzottelt. Ich finde es einfach ...« Sie befestigte den Knoten mit weiteren Haarnadeln, dann begutachtete sie das Ergebnis im Spiegel. »Ich finde, es sieht würdelos aus.«
»Würdelos?«
»Ich bin zu alt, um mein Haar offen zu tragen. Das habe ich getan, als ich ein junges Mädchen war, doch jetzt würde es nur lächerlich wirken. Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich unordentlich aussehe.« Barri zog die Hülse des Lippenstiftes ab und begann, sich sorgsam die Lippen zu schminken. Es gelang ihr, obwohl sich der Stift noch nicht den Konturen ihres Mundes angepasst hatte. »Ich habe schon vor langer Zeit
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