Die Rettung
gelernt, dass die Leute einen höflicher und respektvoller behandeln, wenn man sauber und gepflegt aussieht.« Sie schob die Hülse wieder auf das Röhrchen und lächelte ihre Besucherin strahlend an.
Cody erwiderte nichts darauf, sondern lehnte sich nur zurück und betrachtete Barri nachdenklich. Ihre Augen wurden schmal, und Barris Lächeln erstarb. Schließlich sagte Cody: »Dylan hat mir erzählt, Sie wären früher mal ein Hippiemädchen gewesen.«
Barri errötete leicht. Wieder spielte ein halb wehmütiges, halb verlegenes Lächeln um ihre Lippen. »Ach, das ist doch schon so lange her ..., aber ja, so hat man uns damals wohl genannt. Als ich Kenneth kennen lernte, waren wir beide so jung, so rebellisch und so ... ja, so dumm.« Sie faltete die Hände um den Lippenstift und legte sie in den Schoß.
Cody machte große Augen. »Sie fanden das dumm? Ich finde es faszinierend. Ich hätte auch gerne so gelebt, es muss wahnsinnig aufregend gewesen sein.«
Barri kicherte leise. Sie hatte schon oft von jungen Leuten gehört, wie aufregend es doch gewesen sein müsse, ein Leben frei von Konventionen zu führen. »Wir sind ausgezogen, um die Welt zu verändern.« Es war eine Entschuldigung dafür, dass sie versagt hatten.
»Das haben Sie doch auch getan.« Cody meinte es offensichtlich ernst, doch Barri schüttelte den Kopf.
»Die menschliche Natur lässt sich nicht ändern. Wir mussten irgendwann erkennen, dass uns die Missachtung aller Regeln nur Verwirrung, Unsicherheit und Unglück brachte. Also wurden neue Regeln aufgestellt. Manche machten Sinn, andere nicht. Wir wurden älter, wir sammelten Erfahrungen, und statt dass wir die Welt veränderten, veränderte sie uns.«
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie an die Jahre vor Dylans Geburt und ihrer Heirat mit Kenneth zurückdachte. Wie konnte sie Cody den Schock erklären, den es ihr versetzt hatte, als sie erkennen musste, wie verantwortungslos sie alle gewesen waren? Einige ihrer Freunde hatten schließlich die alten Wertvorstellungen durch neue ersetzt und danach gelebt. Aber viele weigerten sich nach wie vor, überhaupt irgendwelche Regeln gelten zu lassen und sahen verächtlich auf all die herab, die doch noch zur Vernunft gekommen waren. Viele Jahre lang hatten Kenneth und sie im völligen Chaos gelebt. Ihre Freunde waren an einer Überdosis Heroin gestorben oder von einem LSD-Trip nicht zurückgekehrt, oder sie vegetierten in bitterer, selbst verschuldeter Armut dahin.
Während dieser Zeit hatten Kenneth und sie in seinem alten Wohnwagen gehaust, in der Kälte geschlafen, von verdorbenen Lebensmitteln gelebt - oder überhaupt nichts gegessen -und waren in einer Haschwolke von einem Ort zum nächsten gezogen. Anfangs war es aufregend gewesen, neue Leute kennen zu lernen und fremde Orte zu sehen. Doch dann hatte sie erkannt, dass sie überhaupt keine echten Freunde hatte; dass all diese Leute in ihr Leben traten und wieder daraus verschwanden, ohne dass mehr von ihnen blieb als eine flüchtige Erinnerung.
Im Herbst 1969 war sie dann schwanger geworden, und auf einmal hatte das unstete Leben, das sie führte, seinen Reiz verloren. Schließlich waren Kenneth und sie nach Tennessee zurückgekehrt, hatten geheiratet, und Kenneth hatte angefangen, für seinen Vater zu arbeiten.
Codys Miene verriet deutlich, dass sie gern mehr über diese Zeit gehört hätte. Doch Barri mochte jetzt, nach über dreißig Jahren, nicht mehr davon sprechen. Stattdessen erwähnte sie etwas, was eigentlich jeden interessierte. »Du wirst es nicht glauben, aber wir waren tatsächlich in Woodstock dabei.« Während sie sprach, drehte sie den Lippenstift nervös zwischen den Fingern.
Cody kicherte. »Ja, das hat mir Dylan schon erzählt. Er sagte, er wäre dort gezeugt worden.«
Barris Wangen färbten sich dunkelrot. Verlegen starrte sie auf ihre Hände. Die Röte breitete sich über Hals und Dekollete aus. »Nun ja...«
Codys Augen funkelten spitzbübisch, während sie so tat, als würde sie etwas an den Fingern abzählen. »Man muss kein mathematisches Genie sein, um sich auszurechnen, dass Dylan wahrscheinlich auf einer Decke im Wald ...«
»Wenn du es unbedingt wissen willst«, Barri dämpfte ihre Stimme und blickte zur Tür hinüber, um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand zuhörte, »es war eine Matratze in Ken-neth' Wohnwagen.« Bei der Erinnerung an jenes Wochenende musste sie unwillkürlich lächeln. »Er sah so gut aus, Cody. Damals trug er einen Bart, und
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