Die Richter des Königs (German Edition)
dann wurde ihm plötzlich klar, dass die Töne nicht Teil seiner Albträume waren, sondern Wirklichkeit. Und er erkannte auch, was es war: die Totenglocke von St. Paul’s, die für die Opfer der Pest schlug.
Eine Hand streichelte seine Stirn. Auch diese Berührung empfand er als Realität, die sein erwachender Geist verarbeiten konnte. Er bemühte sich, die Augen zu öffnen. Zuerst sah er nur verschwommene Umrisse, doch bald klärte sich das Bild. Ein Fenster, durch das die Sonne schien, mit dunklem Holz getäfelte Wände, über ihm ein Baldachin, halb zugezogene Vorhänge … er lag in einem Bett. Neben ihm eine Frau, die ihm mit leuchtenden Augen zulächelte. Er starrte sie an und versuchte, die schwarzen Augen, die gleichmäßigen Züge, den geschwungenen Mund zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Ein Name fand Eingang in seine Gedanken. »Amoret«, hauchte er, als er sie erkannte.
»Ihr habt das Schlimmste überstanden, Pater«, sagte sie leise. »Jetzt müsst Ihr schlafen, um Eure Kräfte zurückzugewinnen.«
Eine Hand legte sich unter seinen Nacken und hob seinen Kopf an. Etwas Warmes, Wohlriechendes näherte sich seinen Lippen, und er trank gierig, auf einmal seinen Hunger spürend. Tiefe Müdigkeit überkam ihn, und er schlief beruhigt ein.
Wieder tauchte das Gesicht des Mannes vor seinen Augen auf. Er betrachtete es eingehend, um herauszufinden, wem es gehörte. »Ihr habt mich kommen lassen«, sagte der Grauhaarige. »Was wollt Ihr mir mitteilen?« Jeremy versuchte, sich zu erinnern. Es war wichtig, ungeheuer wichtig! Es ging um Leben oder Tod. Seine Gedanken irrten durch das Labyrinth seines Gedächtnisses, kamen aber nirgendwo an. Er verlor den Faden, fiel zurück in ein wildes Chaos, in dem er sich nicht zurechtfand.
Immer wieder wechselten sich einzelne Momente der Klarheit mit langen Phasen tiefen Erschöpfungsschlafes ab. Irgendwann gelang es Jeremy, seinen vor Schwäche wie gelähmten Körper wieder zu bewegen, den Arm zu heben, den Kopf zu drehen und sich umzusehen. Erst jetzt erkannte er, dass er in seinem eigenen Bett in der Paternoster Row lag. Alles war unverändert … bis auf die Leinenbinden, die um die Pfosten des Baldachinbettes geknotet waren. Unwillkürlich betrachtete Jeremy seine Handgelenke, deren Haut wund gescheuert war.
»Ihr hattet hohes Fieber und wolltet nicht im Bett liegen bleiben. Ich hatte keine andere Wahl, als Euch zu fesseln«, sagte eine sanfte Frauenstimme.
»Amoret … Ihr wart die ganze Zeit hier?«
Sie setzte sich zu ihm aufs Bett und strahlte ihn erleichtert an. »Habt Ihr wirklich geglaubt, ich würde Euch im Stich lassen? Ich habe gesehen, was diese Krankheit den Menschen antut, dass sie sie um den Verstand bringt, sie aus dem Fenster springen oder sich den Schädel an einer Mauer einschlagen lässt. Als ich einen Tag, nachdem ich Euch zu Hause abgesetzt hatte, nach Euch sah, lagt Ihr bewusstlos in Eurer Kammer. Der Amtswundarzt hatte Euch zur Ader gelassen, bis Ihr ohnmächtig wurdet. Der Geselle, der Lehrling und die Magd waren geflohen. Es war niemand da, um Euch zu pflegen. Also bin ich bei Euch geblieben.«
»Wie lang ist das her?«
»Fast drei Wochen.«
»Und Ihr habt Euch nicht angesteckt?«
»Nein, mir geht es gut.«
»Dann müsst Ihr jetzt gehen. Die Gefahr ist für Euch noch nicht vorüber.«
»Das könnte ich gar nicht, selbst wenn ich wollte«, widersprach Amoret. »Der Konstabler hat mich mit Euch eingeschlossen. Die Tür ist durch ein Vorhängeschloss gesichert, die Fenster im Erdgeschoss sind vernagelt, und draußen steht ein Wächter.«
Jeremy sah sie schuldbewusst an. »Verzeiht mir, ich bin undankbar. Ich weiß nicht, warum ich noch am Leben bin, doch zweifellos verdanke ich dieses Wunder Euch. Ihr seid kein Arzt, und doch habt Ihr anscheinend das Richtige getan.«
»Ich habe nur angewendet, was ich von Euch gelernt habe. Ihr habt mir damals eine so anschauliche Beschreibung Eurer Behandlung von Richter Trelawneys Krankheit gegeben, dass ich mich danach richten konnte. Ich bemühte mich, das Fieber zu senken, indem ich Euch in feuchte Tücher wickelte und Euch einen Trank aus Weidenrinde verabreichte. Allerdings war es schwierig, welche aufzutreiben. Mein Kutscher musste unzählige Apotheker aufsuchen.«
Jeremy drehte sich zur Seite, um es bequemer zu haben, als ein scharfer Schmerz durch seine linke Leiste raste und ihn aufstöhnen ließ.
»Ihr habt eine tiefe Wunde, dort, wo sich die Pestbeule bildete«, erklärte Amoret.
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