Die Richter des Königs (German Edition)
wie ein rohes Ei die Stufen in den ersten Stock hinauf. Der Priester deckte Alan sorgfältig zu, um ihn warm zu halten. Dabei streifte sein Blick Amorets bleiches Gesicht. Mit einem müden Lächeln wandte er sich an den jungen Mann an ihrer Seite: »Breandán, sorgt dafür, dass sich unser Gast in meiner Kammer ein wenig ausruht. Bleibt bei ihr, bis sie sich von dem Schrecken erholt hat.«
Sechsundzwanzigstes Kapitel
B reandán geleitete sie fürsorglich die schmale Treppe in den zweiten Stock hinauf. Jetzt, da die Anspannung nachgelassen hatte, spürte Amoret, dass ihre Beine weich wie Butter waren. Das viele Blut, die Wunden, das gequälte Atmen des Verletzten hatten sie tief erschüttert, umso mehr, da sie den Mann, der dort unten in der Kammer im Sterben lag, wenige Stunden zuvor noch freundschaftlich umarmt hatte. Plötzlich begann sie zu weinen und schmiegte sich an Breandáns Brust.
»Wer tut so etwas Schreckliches? Wer kann einem Menschen, der nie jemandem etwas Böses zugefügt hat, etwas derartig Grausames antun?«
»Wie willst du das wissen?«, entgegnete Breandán leise.
Es dauerte eine Weile, bis die Bedeutung der Worte Amorets Bewusstsein erreichte. »Was meinst du?«, fragte sie verwirrt.
»Woher willst du wissen, ob Meister Ridgeway nie einem anderen Unrecht getan hat? Man hat sicherlich nicht ohne Grund versucht, ihn zu töten.«
»Du hältst alle Menschen für schlecht, Breandán. Aber du irrst dich. Meister Ridgeway ist gut und anständig. Immerhin hat er dich aufgenommen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen.«
Seine Arme, die sie umfingen, verkrampften sich. Bitterkeit und Misstrauen saßen tief in ihm, beeinflussten seine Gefühle und Gedanken und hinderten ihn daran, anderen Menschen unvoreingenommen entgegenzutreten. »Du hast ihn gern, nicht wahr?«, fragte Breandán mit einer Spur von Eifersucht.
»Ja, denn er ist ein treuer Freund. Er hat uns immer geholfen, einander zu sehen, auch gegen den Willen Pater Blackshaws. Ich wünsche von ganzem Herzen, dass er am Leben bleibt.«
Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und spürte, wie er sich allmählich entspannte. Sie bedauerte es, dass es ihr nicht gelang, seine tiefe innere Unsicherheit aufzulösen, die ihn nach wie vor unzugänglich und argwöhnisch machte. Er musste die Fähigkeit, anderen zu vertrauen, schon früh in seinem Leben verloren haben. Sie konnte die schmerzlichen Erfahrungen, die ihn geprägt hatten, nicht ungeschehen machen, aber sie würde versuchen, sie durch glücklichere Momente auszugleichen.
»Komm«, sagte Breandán schließlich. »Du musst dich ausruhen. Der Pater hat Recht. In deinem Zustand solltest du zu viel Aufregung vermeiden.«
Er half ihr aus Mieder und Röcken, entkleidete sich dann selbst bis aufs Hemd und legte sich neben sie auf das Bett. Aneinander geschmiegt schliefen sie bis zum frühen Morgen. Der Nachtwächter unten auf der Straße rief die fünfte Stunde aus, als Amoret sich unruhig erhob.
»Ich werde nachsehen, ob Pater Blackshaw etwas braucht«, sagte sie.
Breandán übernahm erneut die Pflichten einer Zofe und begleitete sie dann in die Küche. Nachdem er auf Amorets Bitten hin die Glut in der Feuerstelle geschürt und Wasser zum Kochen gebracht hatte, beobachtete er verblüfft, wie sie mit geschickter Hand in einer glasierten Steinguttasse Tee aufbrühte.
»Die Königin trinkt gerne Tee. Ich habe daher oft gesehen, wie man dieses Getränk zubereitet«, erklärte Amoret. »Nicht alle adeligen Damen sind ohne Dienerschaft hilflos, wie du siehst.«
Sich die klammen Hände an der warmen Tasse wärmend, stieg sie in den ersten Stock hinauf und kratzte leise an der Tür zu Meister Ridgeways Kammer, wie es am Hof üblich war. Kein Laut war zu hören. Das Schlimmste befürchtend, trat sie ein und versuchte, das Halbdunkel mit den Augen zu durchdringen. Nur das Feuer im Kamin warf ein unruhiges geisterhaftes Licht auf den Patienten im Bett und die ebenso statuenhaft daneben auf dem Boden kniende Gestalt. Pater Blackshaws Hände waren vor der Brust gefaltet, seine Augen halb geschlossen. Die Kerze auf dem Tisch vor ihm musste schon seit langem erloschen sein, ohne dass er Notiz davon genommen hatte. Zweifellos hatte er die ganze Nacht in tiefem Gebet verbracht.
Amoret trat an seine Seite und sprach ihn mit furchtsamer Stimme an: »Pater, wie geht es ihm? Er ist doch nicht …?«
Jeremy hob den Blick zu ihr und schüttelte den Kopf. »Nein, er lebt. Sein Zustand hat sich nicht
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