Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition)
Tage ab. Crouse kam aus Boston runter, um mir zu helfen, unser Feature in Fasson zu bringen, aber nichts half: keine klare Linie, keine Hoffnung, zur Hölle damit! Wir beschlossen, das Scheißding zu begraben und so zu tun, als sei nichts davon je geschehen. Tim flog nach Boston zurück, und ich reiste in reichlich verwirrtem Zustand nach New York, um vor Studenten an der Columbia School of Journalism mich und meine Weisheit zu erläutern.
Später am selben Tag wurde George Wallace bei einer Wahlkundgebung in Maryland, zwölf Minuten entfernt von meinem Haus, von einem Attentäter niedergeschossen. Das wurde zur wichtigsten politischen Story des Jahres, und die verdammten fünf Seiten waren immer noch leer. Crouse flog sofort aus Boston herbei, und ich schlug mich von New York aus durch, aber als wir dort eintrafen, war schon alles vorbei.
Kurz zuvor hatte ich mich von Pat Caddell verabschiedet, McGoverns Experte für Wählerverhalten, der Selbstgespräche führte auf dem Flur vor dem Kontrollraum – in dem er und Frank Mankiewicz sowie ungefähr sechs weitere Leute sich die ganze Nacht mit angeblich getürkten Wahlergebnissen aus Orten wie Toledo und Youngstown und Cincinnati herumgeschlagen hatten.
»Himmelherrgottnochmal!«, sagte er. »Ich kann es einfach nicht fassen! Die haben uns betrogen !« Er schüttelte den Kopf und trat nach dem Spucknapf neben der Fahrstuhltür. » Wir haben die gottverdammte Wahl gewonnen! Wir hatten die Nominierung heute Abend in der Tasche, sie war uns sicher – aber die Dreckskerle haben sie uns gestohlen !«
Was mehr oder weniger der Wahrheit entsprach. Wenn es McGovern gelungen wäre, Ohio mit seinem halb improvisierten Blitzangriff in letzter Minute zu gewinnen, hätte er damit der Humphrey-Kampagne das Rückgrat gebrochen … denn Humphrey hatte sich in Ohio aus der sicheren Warte hinter seinem inzwischen wohlbekannten Schutzschirm aus Gewerkschaften und schwarzen Senioren als ungeheuer stark erwiesen.
Mittwoch bei Tagesanbruch war es immer noch »zu knapp, um den Ausgang vorherzusagen«, zumindest offiziell – aber gegen fünf Uhr hatte Harold Himmelman, McGoverns nationaler Wahlaufseher für Ohio, zu einem der Telefone im Kontrollraum des Neil House gegriffen und wäre fast vom Stuhl gefallen, als er die heiß ersehnten Auszählungsergebnisse aus Clevelands Stadtmitte bekam. McGovern hatte bereits drei der vier Kongresswahlbezirke in Cuyahoga County (Großraum Cleveland) gewonnen, und um den ganzen Bundesstaat für sich verbuchen zu können, brauchte er jetzt nur noch – zusammen mit den 38 zusätzlichen Delegierten für den Nominierungskonvent, die für den Bundesstaatengewinner reserviert sind – einen halbwegs respektablen Auftritt im Wahlkreis 21, dem Zentrum der schwarzen Wählergemeinde und bevölkerungsreichen urbanen Machtbereich des Kongressabgeordneten Louis Stokes. Zehn Sekunden nachdem Himmelman das Telefon abgenommen hatte, schrie er laut: »Was? Jesus Christus! Nein! Das kann nicht stimmen!« (Pause) Dann: »Scheiße! Das ist völlig unmöglich!«
Er drehte sich zu Mankiewicz um: »Es ist alles aus. Hör dir das an …« Er wandte sich wieder dem Telefon zu: »Sagen Sie mir das noch mal … okay, ja, ich bin so weit.« Er wartete, bis Mankiewicz einen Bleistift zur Hand hatte und diktierte die Zahlen: »109 zu eins! 127 zu drei! … Jesus! …«Mankiewicz zuckte zusammen und schrieb die Zahlen auf.
Es ist fünf Uhr fünf an einem kühlen Mittwochmorgen in Columbus, Ohio, und Frank Mankiewicz ruft den für die Wahl verantwortlichen Ohio Secretary of State an. Er holte ihn aus dem Bett, um gegen das zu protestieren, was er in sanften Tönen, aber wiederholt als »die atemberaubenden Unregelmäßigkeiten« bei der Stimmenauszählung bezeichnete. McGoverns leichte Führung ist plötzlich in die Binsen gegangen; die Telefone läuten ununterbrochen, und jeder Anrufer wartet mit einer neuen Horrorgeschichte auf.
In Cincinnati haben die Stimmenauszähler beschlossen, sich erst mal 12 Stunden Pause zu gönnen, eine eklatante Verletzung von Abs. 350 529 des bundesstaatlichen Wahlgesetzes, in dem es heißt, dass die Stimmenauszählung ohne Unterbrechung vollzogen werden muss, bis das Endergebnis vorliegt. In Toledo klammert sich McGovern an einen unsicheren Vorsprung von 11 Stimmen – aber in Toledo und überall sonst sind die Wahllokale mit lokalem (zwar demokratischem, aber nicht McGovern-freundlichem) Parteiklüngel besetzt, und jede Verzögerung beim
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