Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition)
gackerten, weil sie gleich miterleben würden, wie ihre gedungenen Gladiatoren einen Mob brüllender und halb nackter Christen brutal zusammenschlugen. Ich rechnete sogar damit, dass sie kundtaten, Blut sehen zu wollen, und geschlossen die Daumen senkten.
Niemand, der sich draußen auf der Straße bei den Demonstranten befand, wäre so naiv gewesen, sie mit »hilflosen Christen« zu vergleichen. Abgesehen von den »Vietnamveteranen gegen den Krieg« waren die Demonstranten in Miami nur ein Mob lausiger, nichtsnutziger und engstirniger Ego-Junkies, deren einzige Leistung darin bestand, die gesamte Tradition öffentlichen Protests zu diskreditieren. Sie waren hoffnungslos desorganisiert, sie verfolgten mit ihrer Teilnahme letztlich keine ernsthafte Absicht, und gut die Hälfte von ihnen war so angeknallt von Gras, Wein oder Downers, dass sie kaum mit Sicherheit hätten sagen können, ob sie im Moment in Miami randalierten oder in San Diego.
Fünf Wochen zuvor hatten dieselben Leute in der Lobby des Doral gesessen und McGovern »Lügenschwein« und »Kriegstreiber« genannt. Diesmal hatten sie es auf das Fontainebleau abgesehen, das Hauptquartier der nationalen Presse und vieler Fernsehteams. Kämen die Rolling Stones nach Miami, um ein Gratiskonzert zu geben, würden diese Arschlöcher eigenhändig einen Zaun um die Bühne errichten – nur um ihn dann niederzureißen und sich zu brüsten, dass sie sich freien Eintritt verschafft hatten.
Die Drogenszene im Flamingo Park, dem offiziellen Campingplatz für »Nichtdelegierte« und sonstige Möchtegernprotestler, war ein derartiger Downer-Sumpf, dass man den Park bereits »Quaalude Alley« getauft hatte. Quaalude ist ein leichtes Schlafmittel, aber wenn man es in großen Dosen einwirft – möglichst noch zusammen mit Wein, Gras und einem Schuss Adrenalin –, bewirkt es denselben dumpf aggressiven Rauschzustand wie Seconal (»Reds«). Die Wirkung von Quaaludes war im Flamingo Park so augenfällig, dass die Vietnamveteranen der »Last Patrol«-Karawane, die aus allen Himmelsrichtungen in Fahrzeugkolonnen angereist waren, sich weigerten, neben den anderen Demonstranten zu campieren. Sie seien wegen eines ernsten Anliegens in Miami, erklärten sie, und nichts bräuchten sie weniger als die öffentlich zur Schau gestellte Allianz mit einem Mob durchgeknallter Straßenkämpfer und kreischender Teenies.
Die Vets schlugen ihr Lager in der abgelegensten Ecke des Parks auf und riegelten es anschließend mithilfe eines Netzwerks aus Kontrollpunkten und patrouillierenden Wachen so ab, dass nur Zutritt hatte, wer drinnen jemanden kannte. Alles, was die VVAW (Vietnam Veterans Against the War) in Miami taten, geschah mit einer gewissen beunruhigenden Würde. Zwar deuteten sie nur selten Gewaltbereitschaft an, aber allein schon ihre Gegenwart wirkte bedrohlich – in einem Maße, wie es die Yippies, Zippies und wirrköpfigen Straßenkämpfer vom SDS trotz ihres Geschreis und ihrer Zerstörungswut niemals auch nur annähernd erreichten.
Die absolut eindrucksvollste Aktion während des dreitägigen Nominierungsparteitags der Republikaner in Miami war am Dienstagnachmittag der Marsch der Kriegsveteranen zum Fontainebleau. Die meisten Presse- und Fernsehleute befanden sich entweder unten in der Convention Hall, um darüber zu berichten, wie sich die »Liberalen mit den Konservativen« über die Sitzverteilung der Delegierten 1976 stritten – oder sie warteten in der brütenden Hitze der Nachmittagssonne am Miami International Airport darauf, dass Nixon in der Air Force One eingeflogen kam.
Ich hatte vor, an diesem Nachmittag bis an die äußerste Spitze von Key Biscayne zu fahren und ein leeres Strandstück zu finden, von wo aus ich allein in den Ozean hinausschwimmen konnte, um endlich einmal eine Zeit lang mit niemandem reden zu müssen. Mir war die Auseinandersetzung um die Sitzverteilung scheißegal, denn es war eh nur eine Farce, die von den Eierköpfen um Nixon bereits zugunsten der Konservativen entschieden worden war … und ich sah absolut keinen Sinn darin, zum Flughafen zu fahren, um Zeuge zu werden, wie 3000 Roboter der Nixon-Jugend ihre bestens geprobte Willkommensnummer für den Präsidenten abspulten.
Angesichts dieser beiden gleichermaßen deprimierenden Optionen sagte ich mir, dass der Dienstag ein Tag so gut wie jeder andere war, um der Politik zu entfliehen und sich zur Abwechslung mal wie ein menschliches Wesen zu benehmen – oder, besser noch, wie ein Tier.
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