Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition)
Blockhäuser, Hütten, Bretterbuden und Kommunen, von denen wir wussten, dass es dort Wähler gab, aber kein Telefon. Sobald sich herumsprach, dass wir nun ein Hauptquartier hatten, kamen immer mehr Leute. Es dauerte nicht lange, bis die gesamte erste Etage des Elks Club von bärtigen Freaks wimmelte und hektische Rufe den Raum erfüllten, während merkwürdig aussehende Gestalten die Treppen hinauf- und hinunterliefen mit Listen in der Hand oder Notizbüchern, Radios oder Kästen mit Bud weiser …
Jemand steckte mir eine lila Kapsel in die Hand und sagte: »Mein Gott, siehst du müde aus! Was du brauchst, ist dieses 1-a-Meskalin!« Ich nickte ihm abwesend zu und steckte das Ding in eine der vierundzwanzig Taschen meines roten Kampagnen-Parkas. Heb ich mir auf für später, dachte ich. Kein Grund auszuflippen, bevor die Wahllokale schlossen … lieber weiter diese mistigen Listen abarbeiten und noch die letzte Stimme aus ihnen herausquetschen. … weiter telefonieren, gut zureden, die Arschgeigen am anderen Ende anbrüllen, Drohungen ausstoßen …
Es herrschte eine merkwürdige Atmosphäre im Raum, ein elektrischer Wahnsinn, den ich so noch nie erlebt hatte. Ich stand mit einem Bier in der Hand an die Wand gelehnt da und schaute zu, wie der Apparat auf Hochtouren lief. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, was auf einmal anders war. Zum ersten Mal während der ganzen Kampagne glaubten diese Leute daran, dass wir tatsächlich gewinnen würden – oder zumindest eine gute Chance hatten, es zu schaffen. Und jetzt, eine Stunde vor Schluss, rackerten sie wie ein Trupp Bergleute auf dem Weg nach unten, um Überlebende aus einem eingestürzten Stollen zu retten. Zu diesem Zeitpunkt – meine Arbeit war getan – war ich vermutlich der pessimistischste Mensch im Raum. Die anderen schienen samt und sonders überzeugt, dass Joe Edwards der nächste Bürgermeister von Aspen sein würde … dass unser wahnwitziges Freak-Power-Experiment tatsächlich das Rennen machen und zu einem Präzedenzfall für das ganze Land werden würde.
Uns stand eine lange Nacht bevor – erst hieß es abwarten, bis die Stimmzettel von Hand ausgezählt waren. Doch schon bevor die Wahllokale schlossen, war uns klar, dass die politischen Strukturen in Aspen dank uns nicht mehr die gleichen waren wie zuvor. Die alte Garde war dem Untergang geweiht, bei den Liberalen herrschte blankes Entsetzen, und der Underground war so plötzlich, dass es schon erschreckend war, aus der Versenkung aufgetaucht und befand sich nun auf einem ernsthaften Power-Trip. Während der gesamten Kampagne hatte ich auf den Straßen wie in Bars angekündigt, dass ich im Falle eines Wahlsieges von Edwards im darauffolgenden Jahr (November 1970) für das Amt des Sheriffs kandidieren würde … dabei hatte ich nie damit gerechnet, dass ich wirklich würde antreten müssen; genauso wenig, wie ich je ernsthaft daran geglaubt hatte, dass wir ein »Über nahmeangebot« für Aspen zustande bringen würden.
Doch nun passierte genau das. Selbst Edwards, der von Beginn an skeptisch gewesen war, erklärte am Vorabend der Wahl, er rechne mit einem »deutlichen« Sieg. Als er dies sagte, waren wir in seinem Büro und sortierten die Fotokopien mit den Wahlgesetzen des Staates Colorado für unsere Wahlbeobachterteams, und ich weiß noch, dass mich sein Optimismus ziemlich erstaunte.
»Nie im Leben«, sagte ich. »Wenn wir gewinnen, dann allenfalls verdammt knapp – vielleicht mit fünfundzwanzig Stimmen Vorsprung.« Dennoch hatte mich sein Kommentar ziemlich aus der Fassung gebracht. Gottverdammich! Dachte ich. Vielleicht gewinnen wir tatsächlich … und was dann?
Gegen halb sieben fühlte ich mich inmitten des ganzen Trubels wie ein nutzloser Fremdkörper. Also sagte ich mir, scheiß drauf, und verdrückte mich. Ich kam mir vor wie die Comicfigur eines werdenden Vaters, der im Wartezimmer vor dem Kreißsaal hin und her hetzt. Ich war seit fünfzig Stunden ununterbrochen auf den Beinen, hatte gewirbelt wie ein Besessener, und jetzt, wo ich mich um nichts mehr kümmern musste, spürte ich, wie der Adrenalinpegel allmählich sank. Geh nach Hause, sagte ich mir, schluck das Meskalin, setz dir die Kopfhörer auf und seil dich ab von diesem allgemeinen Irrsinn …
Am Fuß der langen Holztreppe von Craigs Büro zur Straße blieb ich kurz stehen, um einen schnellen Blick in die Bar des Elks Club zu werfen. Es herrschte reger Betrieb und lautes Gejohle … eine Bar voller Gewinner. Wie
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