Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition)
Weile gesagt, die Vorwahlen in Wisconsin seien so hoffnungslos chaotisch, dass niemand, der bei Verstand war, sich trauen würde, das Ergebnis vorherzusagen.
Der Leitartikel in der Sonntagausgabe der Washington Post spiegelte die einmütige Überzeugung aller fünf- oder sechshundert Politikexperten der Medien wider, die hier wegen des »Crunch«, wie sie es nannten, versammelt waren, wegen des entscheidenden Showdowns in der ersten nationalen Vorwahl, bei der sich die Spreu vom Weizen trennen würde.
Nachdem einige der besten politischen Journalisten Amerikas einen Monat lang intensiv recherchiert hatten, war man bei der Post zu dem Schluss gekommen, dass (1.) »die Vorwahl in Wisconsin aller Wahrscheinlichkeit nach dramatische Veränderun gen im Kampf um die Präsidentschaftsnominierung 1972 mit sich bringen wird« … und dass (2.) »ein ungewöhnlich hohes Maß an Ungewissheit bleibt, während sich der Wettstreit der Kandidaten dem Höhepunkt nähert«.
Mit anderen Worten: Niemand hatte die geringste Ahnung, was hier geschehen würde, außer dass einige Leute mit einem erheblichen Dämpfer rechnen mussten – und die Insider prophezeiten einhellig, dass Muskie und Lindsay am ehesten baden gehen würden. Weil Lindsay so gut wie abgebrannt war, konnte man mit einiger Sicherheit damit rechnen, dass er in Wisconsin schlecht abschneiden würde, aber Muskie – nach einem überzeugenden Sieg in Illinois, durch den er zumindest teilweise sein katastrophales Abschneiden in Florida hatte ausgleichen können – schien in Wisconsin theoretisch ganz gute Aussichten zu haben … aber das Knochengerüst seiner Wahlkampagne war angefressen wie von einem Karzinom. Muskie umwaberte der Geruch des Todes, und er redete wie ein unheilbar an Krebs erkrankter Farmer, der in letzter Minute versucht, auf die Ernte des nächsten Jahres Geld zu leihen.
Zwei Wochen vor der Wahl sahen die Voraussagen Muskie mehr oder weniger auf gleicher Höhe mit Humphrey und erheblich vor McGovern – doch das glaubte man nicht einmal in seinem Wahlkampfstab. Sie lächelten unverdrossen, aber ihre Kampfmoral hatte in Florida einen Knacks bekommen, als Muskie am Tag nach der Vorwahl eine Konferenz einberief, um zu verkünden, dass er aus dem Rennen aussteigen wolle. Sie hatten es ihm ausreden können und sich einverstanden erklärt, ohne Bezahlung weiterzuarbeiten, bis in Wisconsin gewählt worden war, aber als die Presse davon Wind bekam, dass der Kandidat hatte ausstei gen wollen … nun, das war es dann gewesen. Zwar veröffentlichte niemand auch nur ein Wort darüber, und niemand erwähnte es im Radio oder Fernsehen – aber von dem Moment an wurde Muskies Wahlkampf nur noch von der verbissenen politischen Version des alten Varieté-Mottos »The Show Must Go On« am Leben erhalten.
Mitte der letzten Wahlkampfwoche ließ sogar Muskie selbst ab und zu durchblicken, dass er um seine drohende Niederlage wusste. Während einer Tour durch Kleinstädte im Fox River Valley nahe Green Bay verfiel er sogar öffentlich in Defätismus und raunte, jetzt könne »nur noch ein Wunder helfen« … und als sie alle im Trübsinn zu ertrinken drohten, lud er die Veteranen der Wahlkampfpresse ein, an einem verschneiten Abend seinen 58. Geburtstag mit ihm in einem kleinen Hotel in Green Bay zu feiern. Die Partystimmung war jedoch dahin, als seine Frau dem Newsweek -Reporter Dick Stout ein Stück Geburtstagskuchen ins Gesicht matschte und sagte: »Wie du mir, so ich dir, Dick, was meinst du?«
Endgültig den Rest gab Muskie das Ergebnis einer Umfrage, die nicht veröffentlicht wurde, deren Ergebnis man jedoch mit Bedacht durchsickern ließ. Sie war von Oliver Quayle auf Geheiß von Senator Jackson und dem lokalen Facharbeitergewerkschafts bund AFL, American Federation of Labor , zusammen mit dem CIO, dem Congress of Industrial Organizations , durchgeführt worden und hatte aufgezeigt, dass Muskie innerhalb von zwei Wochen 70 Prozent seiner Anhängerschaft in Wisconsin verloren gegangen waren. Laut Quayle-Umfrage war der ehemalige Favorit von 39 auf 13 Prozent abgerutscht, während McGovern im selben Zeitraum seinen Prozentsatz von 12 auf 23 so gut wie verdoppelt hatte – wodurch McGovern auf den ersten Platz vorgerückt war, gefolgt von Humphrey, der fünf Prozentpunkte eingebüßt hatte und bei 19 Prozent lag.
Dieselbe Umfrage prophezeite George Wallace 12 Prozent, was den liberalen demokratischen Gouverneur Pat Lucey und die Gewerkschaftsmogule zu der
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