Die Rose der Highlands
hinter dem Haus in Richtung des River Conon. Unwillkürlich schlug sie
den Weg nach Little Scatwell ein. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie die
Brücke über den Conon vor sich auftauchen sah. Es war sternenklar an diesem
Abend, und ein voller Mond schickte sein fahles Licht auf die Erde. Ohne dieses
Licht wäre sie bestimmt längst umgekehrt. Sie beschleunigte ihren Schritt,
obwohl es vernünftiger wäre, einen anderen Weg zu nehmen. Warum sich beschweren
mit einem Blick auf jenes Haus, in dem sie mit Dusten glücklich gewesen war?
Sie würde es ohnehin nicht betreten können, weil sie es an ihre alte
Haushaltshilfe Akira und deren Mann Baird Agnew vermietet hatte. Obwohl die
beiden sich wahrscheinlich sogar über ihren Besuch freuen würden, aber Lili
hielt sich für keine gute Gesellschaft an diesem Abend. Noch blieb genügend
Zeit, um umzukehren. Das riet ihr der Verstand, doch ihre Sehnsucht nach Wärme
und Geborgenheit lieà sie weitergehen. Sie blieb noch einmal kurz stehen, als
sie die Türme des Hauses erblickte. Doch dann hielt sie nichts mehr. Schnellen
Schrittes näherte sie sich Little Scatwell.
Verträumt musterte sie das Haus, das im Tal von Strathconon
einzigartig war. Vom Stil passte nichts zusammen. Es war eine wilde Mischung
aus Herrenhaus und Waldhütte, aus viktorianischem Prunk und einfachem Farmhaus.
Ihr Herz ging auf bei dem Anblick des Hauses, in dem sie einst so glücklich
gewesen war. In diesem Haus hatte sie mit Isobel gelebt, nachdem man ihr das
Sorgerecht für das Mädchen übertragen hatte. In diesen Mauern hatte sie Rose
zur Welt gebracht. Und hinter den verschlossenen Türen der oberen Etage hatte
sie Dusten geliebt. Allein bei dem Gedanken, wie wild und leidenschaftlich sie
einander begehrt hatten, durchlief sie eine heiÃe Woge.
Bloà nicht weinen, sprach sie sich gut zu, als sie spürte, wie ihre
Augen erneut feucht wurden.
»Ich vermisse dich so«, murmelte sie, bevor sie kehrtmachte und zu
rennen begann. Erst als sie wieder bei der Brücke über den Conon angekommen
war, hielt sie an. Sie war völlig auÃer Atem und sah noch einmal zurück. Wie
sie diesen Blick über die weiten Felder liebte, rechts bis zu den Bergen, links
bis zum Wald. Plötzlich tauchte wie aus dem Nichts eine Herde Rotwild auf. Sie
lief über eine Weide und verschwand dann in Richtung Wald. Dabei war sie ganz
still. Wenn sie die Tiere nicht mit eigenen Augen sehen würde, sie würde es
nicht glauben, wie geräuschlos sich eine solch groÃe Herde bewegte.
Lili wusste nicht, warum, aber danach ging es ihr ein wenig besser.
Das war ihr schon damals immer so gegangen, wenn sie vom Ausflug auf die
Hochebene nach Scatwell Castle , wo sie sich
schrecklich einsam gefühlt hatte, zurückgekehrt war.
Sie war fest entschlossen, sich umgehend bei Isobel zu
entschuldigen. Dann würde sie Rose in ihrem Turmzimmer aufsuchen. Beide Töchter
würde sie bitten, vor dem Schlafengehen noch einmal in den Salon zu kommen. Ja,
beide Töchter, dachte sie entschieden. Und wenn
Isobel gegen diese Bezeichnung noch so sehr protestierte. Die beiden waren
Lilis Töchter und damit Schwestern! Und schlieÃlich ist das über viele Jahre
überhaupt kein Problem gewesen, fiel Lili ein. Dass Isobel so viel Wert darauf
legte, nicht als Roses Schwester bezeichnet zu werden, hatte erst vor ein paar
Jahren eingesetzt. Als Rose ein Baby war, da hatte Isobel sie voller Stolz
jedermann als ihre kleine Schwester präsentiert. Dass sie sich so vehement
dagegen wehrte, hatte begonnen, nachdem Rose alt genug geworden war, sich nicht
mehr widerspruchslos Isobels Befehlen unterzuordnen.
Lili war fest entschlossen, die beiden Streithähne gleich nach ihrer
Rückkehr im Salon zusammenzutrommeln. Dort würde sie ihnen ernsthaft ins
Gewissen reden. Ihnen vor Augen halten, dass sie als eine Familie
zusammenhalten müssten, und dass es nichts daran zu rütteln gäbe, dass sie aus
ein und demselben Clan stammten. Ihnen einschärfen, dass sie etwas
Einzigartiges verbinde: Das Blut der Makenzies und der Munroys. Lili würde den
beiden endlich reinen Wein über die Geschichte der beiden Clans einschenken.
Sie waren alt genug.
Merkwürdigerweise hatten beide bislang wenig Interesse an der
Familiengeschichte gezeigt. Dann würde Lili es eben heute Abend noch in ihnen
erwecken. Sie hatten ein Recht zu erfahren, wie viel Leid sich die
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