Die Rose des Propheten 1 - Das Buch der Götter
vertieft, daß er darüber seine Furcht vergessen hatte. Mit seinen langen feingliedrigen Fingern setzte er gerade eine Figur. Bruder John, der nicht wußte, daß er von dem Abt beobachtet wurde, murmelte einen milden Fluch und zupfte ratlos an seinem Bart.
Der Abt faltete die Hände in den langen Ärmeln der Kutte und ging zur Kabine seines langjährigen Freundes, des Erzmagus. Dort wurde er herzlich begrüßt und eingeladen, auf eine Tasse Tee Platz zu nehmen.
»Was führt Euch zu mir, Eure Heiligkeit?« wollte der Erzmagus wissen. Er nahm einen siedenden Teekessel von einer kleinen, eisernen Kohlenpfanne, in der er zuvor ein magisches Feuer entfacht hatte. »Ihr seid in den letzten Tagen außergewöhnlich ernst.«
»Das liegt an den Geschichten, die der Kapitän erzählt hat«, gestand der Abt ein. Er setzte sich auf eine Bank, die mit den Planken verschraubt war. »Ihr habt dieses Land besser als ich studiert. Führe ich meine Herde in die Fänge des Wolfes?«
»Seeleute sind ein abergläubisches Volk«, beruhigte ihn der Erzmagus. Er goß den Tee vorsichtig in eine Tasse und war sehr darum bemüht zu verhindern, daß durch das Rollen des Schiffs heißes Wasser auf den Schoß seines Gastes geriet. »Habt Ihr gerade das Geschehen dort oben beobachten können?« Er nickte zum Deck hoch.
»Ja, was hatte das zu bedeuten?« fragte der Abt.
»Sie opfern Hurishta, der Göttin der sich teilenden Meeresflut. Deshalb die goldenen Ringe. Sie glauben, daß die Delphine Hurishtas Töchter sind. Indem sie diese Ringe opfern, sichern sie sich eine ruhige Überfahrt.«
Der Abt schaute ihn ungläubig an.
Der Erzmagus freute sich über die Reaktion des alten Mönchs und fuhr fort: »Ob Ihr es mir glaubt oder nicht, sie behaupten sogar, daß die Töchter Hurishtas eine große Liebe zu den Seeleuten in sich tragen und daß sie jeden Mann, der über Bord fällt, sicher an Land bringen.«
Der Abt schüttelte den Kopf.
»Und heute abend«, prophezeite der Erzmagus, der ein weitgereister Mann war, »werdet Ihr etwas noch Merkwürdigeres zu sehen bekommen. Sie werden eiserne Ringe in die See werfen.«
»Das ist mit Sicherheit nicht so kostspielig wie Gold«, bemerkte der Abt, der voller Bedauern an das Geld dachte, das in den Ozean statt in die Armenkasse seiner Kirche fiel.
»Das ist nicht der Grund. Die eisernen Ringe sind für Inthaban.«
»Eine andere Göttin?«
»Ein Gott. Er soll auch das Meer beherrschen, doch auf der anderen Seite der Welt. Jedenfalls sollen er und Hurishta eifersüchtig aufeinander sein und dauernd in die Gefilde des anderen eindringen. Deswegen brechen häufig Kriege aus, und dann treten plötzlich fürchterliche Stürme auf. Um ganz sicher zu gehen, opfern die Seeleute bei einer Seereise beiden Göttern, so daß keiner beleidigt sein kann.«
»Hat noch nie jemand versucht, diesen umnachteten Seelen die Kunde zu bringen, daß die Meere von Promenthas im Lichte Seiner Gnade und Barmherzigkeit regiert werden?«
»Davon kann ich nur entschieden abraten, mein Freund«, gab der Erzmagus zu bedenken, als er den Ausdruck begierigen, heiligen Eifers im Gesicht des Abts aufleuchten sah. »Die Seeleute befürchten bereits, daß Eure Anwesenheit den Gott und die Göttin erzürnen. Sie haben schon mehr als gewöhnlich geopfert, und es liegt an dem anhaltend guten Wetter, das wir zur Zeit erleben, daß sie noch bei so guter Laune sind. Mich schaudert bei dem Gedanken, was geschehen könnte, wenn wir in einen Sturm gerieten.«
»Aber es ist jetzt nicht die Jahreszeit für Stürme!« erwiderte der Abt unwirsch. »Wenn sie doch nur die Meere und die Gezeiten und die zu erwartenden Winde studierten, anstatt diesen kindischen Unsinn zu glauben…«
»Studieren?« Der Erzmagus sah ihn belustigt an. »Die meisten von ihnen können noch nicht mal ihren Namen lesen oder schreiben. Nein, Eure Heiligkeit, ich rate Euch, Euren Bekehrungseifer auf die gebildeteren Leute in Sardish Jardan zu beschränken. Mir ist zu Ohren gekommen, daß ihr Herrscher sich nicht nur in mehreren Sprachen unterhalten könne, sondern auch in der Lage sei, sie zu lesen. Sein Hof ist ein Himmel für Astronomen, Philosophen und andere gebildete Männer. Aber gerade dieser Verstand macht ihn auch gefährlich.«
Der Abt warf dem Erzmagus einen strengen Blick zu. »Wir beide haben nicht darüber gesprochen, daß er…«, setzte er mit unterdrückter Stimme an.
»Das sollten wir auch nicht«, unterbrach ihn der Erzmagus bestimmt und sah schnell
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