Die Rose von Darjeeling - Roman
Ob sie jetzt seltener werden oder sogar verschwinden würden? Und ja, Carl hatte wohl Recht. Sie traf keine Schuld. Es war nur ein verdammter Zufall gewesen. Ein Zufall, ein Zufall, ein Zufall.
Lieber Gott, schick mir ein Zeichen, dachte sie, dann nickte sie ein.
Kathryn träumte von ihm, sie fiel wieder in den blauen Himmel. Das war eindeutig. Alles in ihr jubilierte, als sie erwachte. Ja, ja, ja!
Es war noch hell, sie hatte höchstens eine Stunde geschlafen. Vor dem Zelt am Lagerfeuer hörte Kathryn Carl und Gustav leise miteinander reden. Sie stand auf und ging zu ihnen. Kathryn schaute in Carls Augen. Die Magie wirkte wie bei ihrer ersten Begegnung.
Als Gustav sah, wie die beiden sich anschauten, begriff er, dass er sich etwas vorgemacht hatte. So hatte Kathryn ihn nie angeschaut. Jetzt wusste er es sicher – er konnte Kathryn nicht haben.
»Auf, auf, Freunde! Ich zeig euch jetzt den Rhododendron jonasii«, rief Carl guter Dinge.
»Lass mich, das Gesträuch interessiert mich nicht«, winkte Gustav ab.
Er wollte nicht mitkommen. Zu bitter war die Erkenntnis. Wieso Carl und nicht er? Warum war immer er der Dumme? Wieso hatte Carls Vater den Weltkrieg überlebt und seiner nicht? Der Schmerz und seine Wut auf Carl loderten erneut auf. Dieser erbärmliche Hund! Er sollte ihn gefälligst verschonen mit seinem Glück.
Doch Carl drängte. »Du musst einfach dabei sein! Wer bitte, wenn nicht du?«
Auch Kathryn bettelte. »Komm schon, Gustav! Davon habt ihr doch so lange geträumt!«
Er gab schließlich nach.
Der Weg war nicht ungefährlich, er fiel zu einer Seite ab, doch für einen geübten Kletterer wie Carl normalerweise kein Problem. Er ging voran.
»Das ist er, gleich sind wir da«, versprach Carl. Schon konnten sie seinen Rhododendron auf der Anhöhe sehen.
Aber seine Muskeln, vom Schwefelbad ermüdet, reagierten nicht so wie gewohnt. Plötzlich machte er einen falschen Schritt, zögerte, stolperte, fing den Fall mit einer Schulterrolle auf und rutschte den Hang hinunter auf einen Abgrund zu.
»Halt!«, schrie Kathryn.
Carl versuchte, sich an Pflanzen und Steinen festzuhalten, glitt aber immer wieder ab. Erst kurz vor dem Abgrund schaffte er es, sich mit den Händen in kniehohem Rhododendrongestrüpp festzukrallen. Seine Beine fanden keinen Halt mehr, hingen schon über der tödlichen Tiefe. Ein großer Steinbrocken, den er selbst beim Hinunterrutschen gelöst hatte, rollte auf seinen Kopf zu, er konnte gerade noch ausweichen. Doch die Erde um das flache Wurzelwerk des Busches begann zu bröckeln.
»Hilfe!«, schrie Carl.
Gustav stand bewegungslos neben Kathryn. Er konnte sich nicht rühren. Ein Gedanke schoss ihm durchs Hirn: Wenn Carl jetzt abstürzt, ist Kathryn frei für mich.
Entsetzt nahm er wahr, dass Kathryn ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.
Ammerland
April 2010
»Ich finde das Thema Rhododendren inzwischen so faszinierend, dass ich meiner Verlegerin vorgeschlagen habe, ein Buch über seine Kulturgeschichte zu schreiben.«
Julia zog skeptisch die Augenbrauen hoch. »Das wäre sicher lohnend und verdienstvoll, Max. Aber auch eine große Herausforderung …«
Sie sahen zu, wie die Rennschweine über ihre Futtertröge im Ziel herfielen.
»Äh …«, war alles, was Max herausbrachte. Kaum war diese Frau in seiner Nähe, hatte er das Gefühl, dass sein IQ sekundenschnell auf Reserve sank. Es reichte gerade noch für die Überlebensfunktionen, aber für mehr nicht. »Und deshalb dachte ich, also, falls …«, startete er einen neuen Versuch, aber irgendwie hatte er den Faden verloren. Wenn sie lächelte, stellten sich ihre Augen schräger.
»Ja?«
Amüsiert betrachtete Julia den englischen Journalisten. Dass er ihr so viel Aufmerksamkeit schenkte, schmeichelte ihr. Aber so leicht ließ sie sich nicht umgarnen. Seit der Enttäuschung mit Lutz hatte sie sich auf eine männerfreie Erholungspause eingestellt. Sie wollte abends mit einer Gesichtspackung und dicken Socken vorm Fernseher hocken, Tanzfilme oder Tango-Videos auf Youtube gucken – sie liebte Tango. Sie wollte weder über ihr Urlaubsziel noch über ihre Wochenendgestaltung diskutieren, aber dafür endlich arbeiten können, wann, wo und wie lange sie Lust hatte. Vor allem würde sie dem Freund ihrer Mutter nicht freiwillig die Baumschule Jonas überlassen, sondern beweisen, dass der Betrieb auch ohne »Synergieeffekte« konkurrenzfähig war. Sonst müsste sie sich eines Tages womöglich noch mit dessen Söhnen in der
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