Die Rose von Darjeeling - Roman
war nicht leicht für Aashmi, plötzlich Schneiderlehrling in Darjeeling bei Mr Singh zu sein. Da gab es vieles, an das sie sich erst gewöhnen musste. Sie trug zum Beispiel jetzt geschlossene Schuhe und musste ihren Nasenschmuck ablegen. Sie vermisste ihre Familie und das Dorf. Die Schnitte der Kleider, die Mr Singh und seine Mitarbeiter für die englischen Damen nähten, entsprachen zunächst nicht ihrem Schönheitsideal. Und ihr Englisch ließ noch zu wünschen übrig. Doch sie brauchte auch nicht mehr so früh aufzustehen und arbeitete in geheizten Räumen. In den Waschräumen des Lehrlingsheimes floss Wasser aus der Wand, das Licht kam von der Zimmerdecke.
Mr Singh war ein strenger, aber korrekter Lehrherr. Er sah, dass Aashmi sich Mühe gab. Deshalb verzieh er ihr kleine Fehler. Und sie lernte schnell.
»Du bist talentiert«, lobte er das Mädchen, als es ihm seinen ersten Zuschnitt präsentierte. Er war sauber gefertigt, die Nahtzugaben präzise mitberechnet. »Gut, Aashmi! Als Nächstes zeigst du mir, dass du genauso gut nähen kannst.«
Wenig später präsentierte sie ihm ihre Nähte, fein und gleichmäßig waren sie, und wieder war er zufrieden. Zum ersten Mal lächelte sie ihn an. Licht fiel durch Mr Singhs abstehende Ohren und ließ sie rosarot erscheinen, was auf seltsame Weise ihr Zutrauen zu ihm steigerte.
Allmählich verlor Aashmi ihre Schüchternheit. Sie gab dem frechen Gesellen sanft Contra. Sie fand Anschluss an andere Lehrmädchen, die auch im Heim wohnten. Gemeinsam gingen sie ab und zu in ein Kino oder spazierten an ihrem freien Tag über die Mall.
Aashmi fühlte sich wohl mit ihrem Leben, wie es jetzt war.
Ammerland
Mainacht 2010
»Was haben die denn vor?«
Max wunderte sich über eine muntere, bunt zusammengewürfelte Truppe von Leuten, einige mit Rosenschere und Gartenhandschuhen bewaffnet, die der Dorfmitte zustrebte. Julia saß neben ihm im Auto. Sie befanden sich auf dem Weg zum Tanz in den Mai.
»Och, die wollen sicher einen Maibaum aufstellen.«
Max fuhr langsamer. Der Geruch von Bratwürsten und angekokeltem Stockbrot drang durchs geöffnete Autofenster. Ein Mann spielte sich auf dem Akkordeon warm. Kinder hüpften aufgeregt umher.
Julia grinste. »Das ist ein alter Ammerländer Brauch. Wird in fast jedem Dorf gepflegt.«
»Erzähl mehr. In London gibt’s so was nicht.«
Sie erklärte ihm, dass meist die Vereine dazu aufriefen. »Man trifft sich am 30. April, bastelt eine Krone mit Bändern und Papierblumen. Die Männer fahren mit dem Trecker in den Wald und schlagen eine hohe Birke. Und dann wird die Krone befestigt und der Maibaum auf dem Dorfplatz aufgestellt.«
»Witzig! Und dazu wird getanzt? So richtig wie früher?«
»Meistens ja. Anschließend in der Disco. Aber in einigen Orten gibt’s noch Volkstanz unterm Maibaum, zum Beispiel in Bad Zwischenahn.«
»Können wir uns das ansehen, bevor wir auf die Party gehen?«
Julia zuckte mit den Achseln. »Ja, sicher …«
Sie erklärte ihm den Weg.
»Du bist so heimatverbunden. Hast du je etwas anderes machen wollen als den Familienbetrieb weiterzuführen?«
»Richtig ernsthaft hab ich nie darüber nachgedacht«, erwiderte sie nachdenklich. »Nach dem Tod meines Vaters war klar, dass ich so früh wie möglich meiner Mutter unter die Arme greifen muss.« Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht Landschaftsarchitektur studiert.
»Wärst du unglücklich ohne den Betrieb?«
»Du stellst Fragen …«
Julia überlegte. Es war nicht einfach, in Zeiten wie diesen einen mittelständischen Betrieb profitabel zu führen. Nicht nur die Energiepreise stiegen. Sie fühlte sich oft wie der Frosch, der in die Milchkanne gefallen war und strampelte und strampelte, um nicht zu ertrinken – immer in der Hoffnung, dass unter ihm endlich feste Butter entstehen möge. Dass die Banken- und Eurokrise nicht nur in der Tagesschau stattfand, sondern zunehmend ihr Leben zum Schlechteren veränderte, machte sie zornig. Der Mittelstand bröckelte immer mehr weg, und man konnte kaum etwas dagegen tun! Ihr Urgroßvater hatte sich in der Nachkriegszeit noch als Abgeordneter im Kreistag engagiert. Aber ihr fehlten Zeit und Energie. Alle Power steckte sie in den Betrieb. Manchmal konnte sie schon verstehen, dass Lutz es nicht mehr ertragen hatte an ihrer Seite. Aber das alles wollte sie Max jetzt nicht erklären.
»Natürlich gibt’s Dinge, auf die ich gut verzichten könnte«, antwortete sie fast ein wenig ungehalten. »Man muss sich
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