Die Rose von Darjeeling - Roman
der sie beantworten könnte. Ich erinnere mich, dass mein Vater sagte, wir dürften Oma nichts von der Nachzüchtung verraten. Es sollte eine Überraschung werden.« Julia ahnte nicht, dass Max gerade im Begriff war, einem Familiengeheimnis auf die Spur zu kommen, und erzählte unbefangen weiter. »Aber mein Vater ist in der Silvesternacht 1999 bei einem Verkehrsunfall gestorben. Da war ich knapp sechzehn. Für mich war ganz klar, dass ich sein Lieblingsprojekt, die Nachzüchtung der Rose von Darjeeling für ihn fortsetzen würde …«
Julia fröstelte. Wieder stand alles ganz lebendig vor ihr. Sie hörte, wie die Polizisten nachts an ihrer Haustür klingelten. Sie sah den ungläubigen, schockierten Blick ihrer Mutter. Und dann ihren Vater aufgebahrt in der Leichenhalle. So kalt, so fremd. Er könnte heute noch leben, dachte Julia, und fühlte, wie ihr heiße Tränen die Wangen herunterliefen. Still weinte sie im Dunkeln vor sich hin.
Max hatte ihren letzten Worten nicht zugehört. Er bemühte sich, eins und eins zusammenzuzählen. Seine Großmutter musste diesem Carl Jonas damals begegnet sein. Hatte seine Großmutter ihm diese Geschichte an ihrem achtzigsten Geburtstag erzählen wollen?
Julia wischte sich verstohlen die Tränen weg. Plötzlich wünschte sie, Max würde sie in die Arme nehmen und trösten. Einfach nur ein bisschen festhalten. Doch Max schaute irgendwohin in die weite Ferne. Julia nestelte nach einem Taschentuch.
Max war konfus. Er wollte sich nicht verraten, nichts Falsches sagen. Natürlich plante er, Julia die Wahrheit über sich zu sagen, lange schon. Aber erst musste er wissen, wie das alles zusammenhing. Er wollte sie nicht verletzen und keine Gerüchte in die Welt setzen, erst in Ruhe nachdenken … Ein Scherz, ein lockeres Wort musste jetzt her. Das half immer.
»Tolle Party. Danke, dass du mich mitgenommen hast. Auch schön, mal andere Leute als immer nur Rhodoexperten zu treffen.« Max lachte. »Die erkenn ich inzwischen aus hundert Metern Entfernung: rote Wangen, Körper vorgebeugt, ausgebeulte Cordhose, Gürtel zu eng geschnallt, praktische Vielzweckweste überm Pullover, und das alles am liebsten in einem verwaschenen Grünbraunbeige – wahrscheinlich, damit sie im Garten nicht auffallen … Und dann erst ihr Vokabular: Unterarten, Varietäten, Spezies, pyramidaler Stutz, auffällige Fleckzeichnung …«
Julia sprang wütend auf. »Du bist so was von unsensibel!« Da zeigte sie ihre verletzliche Seite, was sie sonst nie tat, und diesem Kerl fiel nichts Besseres ein, als sich über die Menschen lustig zu machen, die ihn seit Wochen bei seiner Recherche unterstützten.
»Jetzt will ich dir mal was sagen, Max Whitewater! Du hast keine Ahnung von Rhodos. Du bist botanisch auf Vorschulniveau!«
Max schaute sie völlig entgeistert an. Was um Himmels willen hatte er falsch gemacht? »Sorry, aber ich hab gerade …«
Jetzt kam Julia erst richtig in Rage. »Du bist denkbar ungeeignet, ein Buch über Rhododendren zu schreiben, weil dir die Liebe, die Begeisterung und die Leidenschaft dafür fehlen. Wie diesen Idioten, die Rhodos zur Industrieware degradieren, unsere Parks und Gärten mit billigen, ach so robusten, megalangweiligen Nullachtfünfzehn-Sorten überschwemmen! Wenn du die Faszination nicht spürst, solltest du es besser sein lassen. Solange dir beim Anblick der Blüten nicht das Herz aufgeht, hast du überhaupt nichts verstanden!« Sie drehte sich um und stapfte davon.
Wie vor den Kopf geschlagen irrte Max durch den Kurpark. Womit nur hatte er Julia erzürnt? Was für ein hässliches Ende eines wunderschönen Abends. Dabei waren sie sich doch so nahegekommen …
Max ließ sich schließlich auf einem Holzanleger nieder. Er schlug die Arme um seine Knie und lauschte dem Plätschern der Wellen, dem Rascheln im Schilf. Wohlige Schauer liefen ihm den Rücken hinunter, als er sich an den Tango erinnerte: brizzelige hocherotische Fünkchen waren da geflogen, und ein unglaublich schwereloses Hochgefühl hatte ihn und Julia verbunden. Genau das wollte er wieder erleben! Manche Empfindung machte schon beim ersten Mal süchtig fürs Leben.
Ein feiner Duft schwebte durch die Nachtluft. Max stand auf, folgte der süßen Spur, die zart war wie ein Schmetterlingskuss. Sie zog seine Aufmerksamkeit auf eine Rhododendrongruppe, die im Lichtkegel einer Laterne stand. Und zum ersten Mal seit seiner Kindheit betrachtete Max eine Blüte richtig. Nicht einfach zu Recherchezwecken, sondern mit
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