Die Rose von Darjeeling - Roman
gerissen. Wir werden jetzt nachts zusätzlich zum Nachtwächter Wachen aufstellen«, sagte Aldous Whitewater, als sie mit Verspätung ihren Tee im großzügigen holzgetäfelten Salon einnahmen.
Das Sofa und ein niedriger Couchtisch standen auf einer erhöhten Wohnebene, so konnte man den Ausblick auch im Sitzen genießen – den Garten mit englischem Rasen und Blumenrabatten und das überwältigende Panorama des Himalayagebirges, das sich in vielen Schattierungen von Grafitblau vor ihnen auftürmte. Es strahlte auch heute, trotz wolkenverhangener Gipfel, Erhabenheit aus. Die Besucher wussten kaum, wohin sie zuerst blicken sollten. An der Wand hinter ihnen hing zwischen anderen Jagdtrophäen das Fell eines Schneeleoparden, der drohend seine Zähne bleckte.
»März 1927«, kommentierte Whitewater grimmig, wohl in Erinnerung an den dramatischen Tag damals.
»Wieso reißt der Schneeleopard nicht einfach Wildschweine in den Wäldern?«, fragte Gustav, der ein wenig vom Jagen verstand. »Wild gibt’s ja wohl genug da draußen, normalerweise scheut doch eine Wildkatze menschliche Ansiedlungen, erst recht bei Tage.«
»Gute Frage«, brummte Whitewater. »Kann sein, dass er schwach ist und nur noch fangen kann, was angepflockt ist. Kann sein, dass er verletzt wurde.«
»Von wem? Wer sollte so ein starkes Tier angreifen?«, fragte Kathryn, und mischte sich damit in das Männergespräch ein.
Da keine Damen anwesend waren, mit denen sie sich über Plumpudding-Rezepte oder die neueste Mode unterhalten konnte, nahm ihr Vater die kleine Regelverletzung hin. Insgeheim war er froh, dass sie überhaupt lebhaftes Interesse zeigte. Immer wenn sie ihre melancholischen Phasen hatte, wozu sie seit dem Tode ihrer Mutter gelegentlich neigte, machte sie ihm Angst – mehr Angst, als wenn sie neumodische Forderungen stellte, wie zum Beispiel, das Autofahren lernen oder gar studieren zu wollen. Was er ihr aber alles niemals gesagt hätte, da er es sich kaum selbst eingestand. Denn dann müsste er sich vermutlich einen Teil der Schuld geben – schließlich hatte er seine Tochter nach dem Tod seiner Frau Annabella auf teure Internate nach Europa geschickt, statt sich um sie zu kümmern. Damals dachte er, es sei das Beste für sie, doch gespürt hatte er immer, dass er sie in ihrer Trauer allein ließ und seine Pflichten als Vater vernachlässigte. Nur hatte er in seiner eigenen tiefen Trauer keinen anderen Weg gewusst. Über Gefühle sprach man nicht. Jetzt bedauerte er, dass er kein innigeres Verhältnis zu seinem einzigen Kind hatte.
»Na ja, eine Verletzung könnte viele Ursachen haben«, beantwortete Whitewater ihre Frage. »Es kann einen Unfall durch einen umgestürzten Baum gegeben haben oder durch eine Steinlawine. Oder das Tier hat sich mit einem Stachelschwein angelegt.«
Ein indischer Diener mit Turban und weißen Handschuhen servierte den Tee in einer Silberkanne.
»Ganz ausgeschlossen ist es natürlich nicht«, fuhr der Teepflanzer mit einem Räuspern fort, »dass wieder ein Tiger im Revier ist und dass er den Schneeleoparden verletzt hat.«
Carl schluckte. Das fehlte ihnen gerade noch.
»Jagen Sie, Gentlemen?«
Gustav bejahte.
Carl erwiderte lässig: »Ich jage lieber Pflanzen, Sie wissen schon. Ihre Landsleute haben ja auf diesem Gebiet bedeutende Pioniere hervorgebracht.«
»Richtig, Sir Hooker war einer der größten Pflanzenjäger und Botaniker überhaupt! Mein Großvater kannte ihn, er schätzte ihn sehr.«
Carl konnte seinen Blick kaum losreißen von der herrlichen Aussicht. Wie viele Entdeckungen dort wohl auf ihn warteten?
Im Osten schlängelte sich durch ein tiefes Tal ein breites jadegrünes Band, der Teesta. Der wildeste Fluss des Himalaya brachte das in den Bergen abgeregnete und geschmolzene Wasser nach Süden bis in den Golf von Bengalen. Üppig grüne Teakriesen und blühende Bäume reichten bis an sein Ufer.
»Dahinter ist schon Sikkim!« Kathryn zeigte auf die Wälder jenseits des Flusses, und die beiden Deutschen verloren sich in ihren Gedanken.
Immer wenn Carl sich die Landkarte anschaute, erschien ihm das kleine Königreich wie ein Daumenabdruck, eingequetscht zwischen den viel größeren Ländern Britisch-Indien im Süden, Bhutan im Südosten, Tibet im Osten und Norden und Nepal im Westen. Es faszinierte ihn, dass dieser Staat, der nur gerade so groß war wie die Lüneburger Heide, so viele Extreme in sich barg: Höhen von dreihundert bis zu achttausend Metern, Klimazonen von subtropisch über
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