Die Rose von Darjeeling - Roman
tranken die Menschen durchschnittlich elfmal so viel Tee wie der Rest der Deutschen. Da Carls halbe Verwandtschaft ostfriesische Wurzeln hatte, traf sich die Familie fünfmal am Tag zum Ostfriesentee. Sie tranken gemeinsam Tee zum Frühstück, in der Elf-Uhr-Pause, nach der Mittagspause, dann wieder zum Nachmittagsvesper und schließlich noch einmal nach Feierabend gegen neun Uhr. Bei ihm daheim hielt sich jeder für eine begnadete Teenase, aber man kannte eben doch nur die Ostfriesenmischung. Die bestand üblicherweise zu siebzig Prozent aus Assamtee, der Rest setzte sich aus verschiedenen Sorten von Ceylon bis Darjeeling zusammen. Am liebsten tranken sie alle den von ter-Fehn-Tee aus der Spitztüte, den Tee für die breite Masse, für die, wie Gustav gern erklärte, dreißig verschiedene Teesorten je nach Saisonergebnis anders gemischt wurden, um am Ende doch eine gleichbleibende Qualität und den typischen Geschmack zu erzielen. Die Spitztüte sicherte das Auskommen der Familie seines Freundes, sie war das Standbein. Und die Feinschmeckertees sollten das Spielbein werden.
Natürlich kauften normale Leute auch keine besonders teuren Tees, deshalb hatte Carl bis zu dieser Reise kaum geahnt, welche Höhen und Raffinessen die Teeologie bereithielt. Die besten Assams schmeckten reiner, malziger und, wenn sie abkühlten , cremiger als alles, was er bislang gekostet hatte. Da hatte er sogar erstmals freiwillig auf das gewohnte Sahnewölkchen im Tee verzichtet und verschmerzen können, dass es statt Kandis nur Zucker gab.
Zu Beginn ihrer Indienreise hatte Carl das Chinin, das er zur Malaria-Prophylaxe nahm, nicht gut vertragen. Das Einzige, was er tagelang zu sich nehmen konnte, waren Toastbrot und Assam-Tee gewesen. Recht seltsam fand er es, in einer Gegend, die für ihn am Ende der Welt lag, an jeder Ecke etwas so Vertrautes wie diesen Tee bekommen zu können. Ein Stück Heimat in der Fremde. Dabei, so überlegte er nun, war ja im Grunde das, was er für ein Stück Heimat hielt, das Fremde und hier im fernen Asien zu Hause – genau wie der Rhododendron.
Carl sagte nichts. Dieser vornehme First Flush sollte offenbar jungfräulich ohne Zusätze genossen werden. Er schlürfte vorsichtig, konnte dem Getränk jedoch nicht viel abgewinnen. »Kien Mors in de Büx«, schoss ihm durch den Kopf, das plattdeutsche Urteil für »Schmeckt nach nichts«.
Mr Whitewater schaute triumphierend auf Gustav, seine Miene verriet Stolz.
Gustav pflichtete seinem Gastgeber bei. »Hervorragend! Blumig zart und elegant. Wie lange lassen Sie ihn ziehen? Fünf Minuten?«
Whitewater nickte. »Ja, und das Wasser darf nur kurz sprudelnd gekocht haben. Dieses Jahr haben wir exakt den richtigen Zeitpunkt für die Ernte erwischt.«
Kathryn flüsterte dem Diener, der diskret abseits stand und auf Anweisungen wartete, etwas zu. Er verneigte sich, ging hinaus und brachte wenig später ein Honigtöpfchen. Mit einem kleinen, verschwörerischen Lächeln stellte Kathryn es neben Carls Tasse. Er sandte ihr einen dankbaren Blick zurück und süßte dann seinen Tee.
»In eurer Heimat trinkt man starken schwarzen Tee und gern gesüßt, nicht wahr?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage. »Liegt diese Vorliebe nicht in dem eisenhaltigen rostbraunen Wasser aus den Mooren begründet?«
»Richtig!« Carl verschluckte sich fast.
Das junge Mädchen sah nicht nur goldig aus und konnte Gedanken lesen, es kannte sich auch mit der Teezubereitung aus.
»Die Wasserqualität spielt nämlich eine große Rolle«, meinte sie. »Mit unterschiedlichem Wasser schmeckt der gleiche Tee manchmal völlig anders! Assam eignet sich auch für hartes Wasser, aber Darjeeling braucht weiches, um sein Aroma zu entfalten.«
Der Diener brachte eine weitere Silberkanne. Aldous Whitewater schob seine Tasse vor. »Sie müssen jetzt unbedingt unseren Second Flush vom letzten Jahr probieren, Gentlemen. Er hat das begehrte Muskatelleraroma.«
Tee der zweiten Pflückung von Juni bis Juli war im Gegensatz zur ersten länger haltbar als ein Jahr. Whitewater zeigte den Gästen den trockenen Tee. Er öffnete eine Blechdose, schüttelte sie leicht und schnüffelte selbst hinein, bevor er sie Carl und Gustav hinhielt.
»Da – und sehen Sie unsere feinen silbrigen tipps.«
»Hervorragend!«, lobte Gustav.
Die hellen, Tipps genannten Spitzen waren getrocknete Knospen von Teeblüten, sie werteten den Tee mit den im Ganzen gerollten grünlichen Blättern auch optisch auf.
Während
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