Die Rose von Darjeeling - Roman
nicht »Carl« auf englisch »Charles«? Max erinnerte sich dunkel: In der Familie machte man gelegentlich Scherze darüber, dass Charles als recht propere Frühgeburt zur Welt gekommen sei. Natürlich hatten alle angenommen, die Leidenschaft sei mit Alfred durchgegangen und Kathryn sei dem Charme des Lords schon vor ihrer Ehe erlegen …
Max grübelte. Sollte er seinem Vater sagen, was er herausgefunden hatte – und was er vermutete? Wie würde er das verkraften? Und wenn er, Max, und Julia den gleichen Großvater hätten, wäre dann ihre Liebe eigentlich schon Inzucht?
Ein altes, sepiafarbenes Foto von seiner Großmutter kam ihm in den Sinn. Als kleiner Junge hatte er es oft fasziniert betrachtet, weil seine Oma darauf so jung aussah. Es zeigte sie mit zwei ihm unbekannten Männern in Darjeeling. Damals war sie noch nicht verheiratet gewesen. Sie stand in übermütiger Pose auf einer Teekiste, während die Männer daneben mit ihr flachsten. Konnte nicht einer der beiden Carl Jonas sein?
Max nahm sich vor, dieses Foto zu suchen. Kurz entschlossen buchte er den wöchentlichen Direktflug von Bremen nach Jersey. Zwei Tage später konnte er via London locker wieder zurück im Ammerland sein.
Das Foto stand immer noch in einem Silberrahmen auf dem früheren Sekretär seiner Großmutter. Ihr Salon und Schlafzimmer dienten seit ihrem Tode als Unterkunft für Ehrengäste der Familie. Max wickelte das Bild sorgfältig ein. Er sah noch einige alte Fotoalben durch, doch die brachten ihn nicht weiter. Abgesehen von ein paar Aufnahmen von Geestra Valley begannen sie alle erst mit ihrem Leben als Herrin von Greenville Manor.
Seine Eltern waren nicht zu Hause, sondern beim Mai-Festival in Chester, einer Kleinstadt an der walisischen Grenze, wo sie jedes Jahr mit Freunden auf der ältesten Rennbahn Englands die Eröffnung der Pferderennsaison feierten. Dass er seinen Vater nicht auf Greenville Manor antraf, war Max ganz recht. Denn er wusste immer noch nicht, ob er jetzt schon mit dem alten Herrn über seinen unglaublichen Verdacht sprechen sollte. Nein, wohl besser nicht. Mit knapp achtzig einen anderen Vater zu bekommen, dürfte wohl ein ziemlicher Schock sein. Als Überbringer einer solchen Nachricht sollte man sich daher sehr sicher sein.
Max dachte ständig an Julia. Er zweifelte nicht mehr daran, dass sie in ihn verliebt war. Und er brannte darauf, ihr zu beweisen, dass er inzwischen ein echter Rhododendronliebhaber geworden war. In Gedanken feilte er an einer kleinen Rede, mit der er sie überzeugen wollte.
Doch sein Rückflug fiel aus. Auf den Flughäfen herrschte über Nacht Chaos. Eine Aschewolke aus einem isländischen Vulkan mit unaussprechlichem Namen legte den Flugverkehr in Europa und vor allem über den britischen Inseln tagelang lahm. Max musste warten. Er hätte Julia anrufen können. Aber das erschien ihm angesichts der Umstände unpassend. Er nutzte die Zeit, um mehr über die Verhältnisse anno 1930 in Darjeeling und Sikkim in Erfahrung zu bringen. Sikkim gehörte erst seit den Siebzigern des letzten Jahrhunderts zu Indien. Vor über achtzig Jahren durften nur handverlesene Europäer einreisen und diese Wenigen dürften einander mit größter Wahrscheinlichkeit bekannt gewesen sein.
Vier Tage vor Eröffnung der Rhodo hatte Max sich immer noch nicht bei Julia gemeldet.
»Diese Pflanzcontainer sind verkehrt!« Gereizt fauchte sie ihre Gärtner an. »Wie oft soll ich das noch sagen? Nehmt TEKU -Töpfe, die sind besser.« Ihre Mutter machte einen großen Bogen um sie.
Hein schloss die Tür zum Gewächshaus mit den Ausstellungspflanzen auf, Sekunden später alarmierte ein markerschütternder Fluch Julia. Sie rannte über den Hof, stürzte zu ihren kostbarsten Pflanzen – und brach bei deren Anblick in Tränen aus.
»Nein, nein, nein!« Zu früh geplatzte Knospen, verwelkte Blüten, erschlafftes Azaleengrün … Der Anblick tat Julia körperlich weh. Wieder herrschte ein tödliches Klima für ihre Rhododendren: der Raum überheizt, kaum noch Feuchtigkeit in der Luft. Wer machte so was?
Hein beteuerte bestürzt: »Ich hab gestern Abend alles noch mal doppelt und dreifach überprüft …«
»Ja, ich glaub dir, Hein, das ist nicht deine Schuld, das sieht nach Sabotage aus.«
Julia rief die Polizei. Die Spurensicherung kam und nahm Fuß- und Fingerabdrücke. Sie entdeckten ein defektes Kippfenster, durch das jemand eingestiegen sein konnte. Aber die Beamten machten Julia wenig Hoffnung, dass sie den oder
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