Die Rose von Darjeeling - Roman
kränkelnden Mutter, ihr Vater, der Kolonialbeamter gewesen war, lebte nicht mehr. Die Mutter wollte schon seit Jahren wieder zurück in die Grafschaft Kent, weil sie sich in Indien nicht mehr wohl fühlte, doch hätte ein Verkauf ihres Häuschens nur einen lächerlich geringen Preis erzielt, weshalb sie ihre Heimkehr immer weiter hinauszögerte.
Samantha nahm den Hut ab, krauses blondes Haar fiel ihr bis über die Schultern. »O Katie, wie schön dich zu sehen! Und du hast Besuch mitgebracht.«
Erfreut reichte sie Carl und Gustav, die sich ihr gleich vorstellten, die Hand. Mit dem Ellbogen wischte sie sich das zerzauste Haar aus der Stirn, die Männer nahmen einen Hauch von Lavendel wahr.
»Setzt euch doch bitte.«
Sie nahmen auf der Veranda in einer Sitzecke mit hübschen Möbeln im Kolonialstil Platz, und Sam bot ihnen Limonade an.
»Wie geht’s deiner Mutter?«, fragte Kathryn mitfühlend.
»Ach, momentan ganz gut. Sie trifft sich gerade mit ihrem Bridge-Club. Aber du kommst zur richtigen Zeit. Gestern ist ein Schwung neuer Modemagazine aus London und Paris in der Stadt eingetroffen. Nur zwei Monate alt!« Die Unruhen durch die Streiks und den zivilen Ungehorsam vieler Inder gegen die britische Kolonialmacht sorgten in letzter Zeit häufig für Verspätungen bei Lieferungen aller Art.
»Fabelhaft, ich werde mich nachher darauf stürzen! Aber deshalb bin ich natürlich nicht hergekommen. Ich wollte fragen, ob du mit deiner Mutter am Samstagabend in den Planters’ Club kommst. Es wäre nett, wenn du beim Dinner nach dem Empfang für unsere deutschen Gäste die Tischdame von einem der beiden sein könntest.«
»Wir könnten uns um Sie duellieren«, schlug Gustav mit einem charmanten Lächeln vor.
»Natürlich kommen wir«, antwortete Sam amüsiert, »das lass ich mir doch nicht entgehen.« Sie lachte. »Wir könnten ja auch mal zusammen Rollschuh laufen im Gymkhana-Club.«
»Oh, ist Ihre Mutter so sportlich?«, spaßte Carl.
Jetzt mussten sie alle lachen.
Kathryn wusste, dass Samantha ohne männliche Begleitung kommen würde. Sie hatte ein Verhältnis – mit einem Tibeter. Heimlich trafen sie sich seit einem Jahr. Er stammte aus einer sehr vornehmen Familie und dürfte niemals eine Engländerin heiraten, wenn er nicht mit allen Traditionen brechen und verstoßen werden wollte. Samantha plante seit dem Tod ihres Vaters ebenfalls, nach Kent zurückzukehren. Doch solange sie ihre Liebe wenigstens ab und zu leben konnten, zögerte sie eine endgültige Entscheidung hinaus. Was einen sehr stimulierenden Effekt auf ihre Affäre hatte, denn der drohende Abschied verstärkte die Leidenschaft auf beiden Seiten. Der Verfall der Immobilienpreise als offizielle Ausrede für ihr Bleiben kam ihr gerade recht.
Kathryn schilderte Sam nun das Problem der beiden Deutschen – dass sie immer noch auf eine Einreisegenehmigung warteten und bisher nicht einmal bis zum Polizeipräsidenten vordringen konnten. Natürlich erwähnte sie den jungen Tibeter mit keinem Wort.
Sam lächelte fein. Sie band sich gleich die Schürze ab.
»Kommt nach dem Lunch wieder«, sagte sie zu ihren Besuchern, »dann weiß ich mehr.«
Kathryn, Carl und Gustav vertrieben sich die Zeit in der Oberstadt. Hier, im Stadtteil Cowrasta, präsentierte sich Darjeeling als eine typisch britische Kur- und Verwaltungsstadt, vor der schroffen Kulisse der Gebirge standen vornehme Bungalows und Hotels. Das Wort Cowrasta war nepalesisch und bedeutete »da, wo alle Straßen zusammenlaufen«. Wie es sich für einen Urlaubs- und Kurort gehörte, hatte auch Darjeeling eine Einkaufspromenade zu bieten, Mall genannt. Sie befand sich an der höchsten Stelle der Stadt. Auf einen großen, länglichen Platz mündeten viele Straßen, die gesäumt waren von Cafés und Geschäften, sie boten Textilien oder Kunsthandwerk an. Gut situierte Hitzeflüchtende, Regierungsbeamte und Frauen mit Kinderwagen flanierten hier. Einheimische standen beieinander, diskutierten und beobachteten das bunte Treiben. Hier befanden sich auch das Post- und Telegrafenamt und die anglikanische Kirche St. Andrews im neogotischen Stil, in der sich die Pflanzer, auch Kathryn und ihr Vater, sonntagvormittags zum Gottesdienst trafen. Die meisten pflegten die Nacht von Samstag auf Sonntag im Club in der Stadt zu verbringen.
Die Oberstadt wirkte zwar nicht mondän, aber gediegen, war sie doch für die Untertanen des British Empire seit Generationen eine Insel im »hässlichen« Indien mit seinen
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