Die Rose von Darjeeling - Roman
Cole-Porter-Song Let’s fall in love lockerte er die weiße Fliege und öffnete den obersten Knopf. Eigentlich hatte er nur seine Pflichttänze absolvieren wollen, und nun machte es richtig Spaß.
In den Tanzpausen schlürften sie wieder Sekt. Ab und zu kamen Bekannte an ihren Tisch, und Kathryn oder Sam wechselten ein paar Worte mit ihnen, einige Male tanzten sie auch mit anderen Männern. Kathryn überstand irgendwie einen langsamen Walzer mit ihrem langweiligen Dauerverehrer John-Henry, dann winkte Lord Taintsworth, der Sams Mutter offenbar erfolgreich davongelaufen war, von der Bar herüber, und sie musste einen Foxtrott mit ihm über sich ergehen lassen. Er hatte so schweißnasse Hände, dass sie erschauderte, aber immerhin tanzte er ganz passabel.
»Miss Whitewater«, hob er erneut an, als der Tanz endete, »würden Sie mir die Ehre erweisen und mich auf eine Spazierfahrt begleiten?«
»Wohin denn, lieber Lord?«
»Wohin … äh … Sie wollen«, stotterte er.
Kathryn lächelte freundlich, sie empfand Mitleid mit dem älteren Herrn.
»Wie wär’s mit dem Botanischen Garten?«, schlug er rasch vor.
»Gut. Warum nicht?« Sie war eine Ewigkeit nicht mehr dort gewesen.
»Nächsten Samstag?«
»Ja, wir sehen uns sicher ohnehin im Club.«
Kathryn ließ sich an ihren Tisch zurückbegleiten, wo sie fröhlich in Empfang genommen wurde. Lord Taintsworth dankte und zog sich sichtlich erleichtert an die Bar zurück. Die Stimmung im Tanzsaal trieb jetzt, zu vorgerückter Stunde, ihrem Siedepunkt entgegen.
»Charleston! Charleston!«, rief die Menge.
Das Orchester erbarmte sich, es steigerte von Lied zu Lied den schnellen, wilden Rhythmus. Die Luft war zum Schneiden, ein stimulierender Mix aus Parfüm, Bohnerwachs, Schweiß, Alkohol, Tabak und Erregung.
Auch Kathryn und ihre Gäste tobten sich auf der Tanzfläche aus. Begeistert sangen sie den Hit Yes! We have no Bananas mit – da verlöschten mit einem Schlag die Lichter. Alles rief und lachte durcheinander. Ein Stromausfall war keine Seltenheit in Darjeeling. Beinahe jeden Tag brach einmal die elektrische Versorgung zusammen. Überall standen stets Leuchter bereit, und Streichhölzer lagen in Reichweite.
Man hörte Kichern, Knistern, heftiges Atmen. Eine schrille Frauenstimme rief: »Flegel!« Irgendwo knallte eine Ohrfeige, worauf der empörte Ausruf eines Mannes folgte. »Nicht so schnell!«, grölte jemand, hörbar alkoholisiert, den Dienern zu, deren Aufgabe es war, die Leuchter zu entzünden. Man munkelte, sie ließen sich bestechen, damit die Dunkelphasen länger als erforderlich andauerten.
Kathryn spürte plötzlich heißen Atem in ihrem Nacken. Und jetzt strich eine raue Hand aufreizend langsam von ihrer Schulter über die nackte Haut den Rücken hinunter. Sie stand da wie gelähmt. Es rieselte ganz himmlisch vom Scheitel bis in die Zehenspitzen, ihre Körperhärchen sträubten sich vor Entzücken. Kathryn wagte nicht, sich umzudrehen. Unerwartet fühlte Kathryn sich in starke Arme gerissen und spürte warme Lippen auf ihren. Sie waren weich und zugleich fordernd und drängten ihren Mund mit sanftem Druck, sich zu öffnen. Sie reagierte instinktiv, es fühlte sich richtig an.
Sie hatte die Augen noch geschlossen, als bereits die ersten Kerzen aufflackerten. Ein Pärchen auf dem Weg zur Tanzfläche stupste sie an. Kathryn öffnete die Augen und fand sich allein wieder, machte verwirrt Platz. Ihre Knie waren so weich, dass sie glaubte, keinen Schritt mehr gehen zu können. Irgendwie fand sie zum Tisch zurück, setzte sich zu Sam, Carl und Gustav, die bereits wieder dort saßen. Verstohlen musterte sie die beiden Männer, und ihr Herz klopfte schneller. Ob einer von ihnen …?
Doch Kathryn konnte bei keinem verräterische Spuren erkennen. Und so tat sie, als sei nichts geschehen. Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag, nur das Rauschen in ihrem Kopf wollte nicht mehr aufhören.
In den nächsten Tagen überschlugen sich die Ereignisse. Kathryns Vater war am Sonntag nach Kalkutta zu einer Teeauktion gereist und hatte ihr während seiner Abwesenheit die Verantwortung für das Geschehen in und um das Haus übertragen. Die wirtschaftliche Situation von Geestra Valley war, seit er die Leitung übernommen hatte, nie so unsicher gewesen wie derzeit. Doch behielt er seine Sorgen für sich und hoffte, durch seine Kontakte und den guten Ruf seines Teegartens bei den Banken einen weiteren Kredit aufnehmen zu können. Vielleicht verkaufte sich der First Flush
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