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Die Rose von Darjeeling - Roman

Die Rose von Darjeeling - Roman

Titel: Die Rose von Darjeeling - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Lott
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Die Enttäuschung tat so weh! Moosbehangene Zweige peitschten ihr ins Gesicht, laut schluchzte sie auf. Oh, niemals, nie, nie wieder sollte er es wagen, ihr Vorschriften zu machen!
    »Papa!«, rief Kathryn tränenblind. »Ich verstehe dich nicht! Wie konntest du so etwas tun?«
    Je näher sie dem Flusstal kam, desto heißer und schwüler wurde es. Zwischendurch stieg sie ab, weil die Steigung zu extrem war. Kathryn atmete schwer, hatte kaum einen Blick für die veränderte Vegetation. Unter Farnbäumen, Palmen und wilden Bananen kämpfte sie sich entschlossen weiter voran. Die Bluse klebte auf ihrer Haut, im Gesicht mischten sich Tränen und Schweiß.
    Oh, sie war so wütend! Aber wenigstens verlieh diese Wut ihr die Kraft, endlich das zu tun, was sie wollte. Schon einmal war sie so wütend gewesen, nach dem Tod ihrer Mutter und ihres Bruders. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken.
    Die Sonne stand schon tief, als Kathryn erschöpft eine schwindelerregend hohe, schwankende Hängebrücke erreichte, die über den Teesta führte. An dieser Stelle hatte sich der Fluss tief in eine Schlucht eingegraben. Ihre Stute lief ein paar Meter über das Bambusholz, dann weigerte sie sich weiterzugehen. Sie weigerte sich aber auch zurückzugehen. Und das Lastpferd machte, was das erste tat. Ein falscher Schritt und sie würden hinunterstürzen. Wütend auf ihr Pferd kämpfte Kathryn wieder mit den Tränen. Aber sie wusste ja, dass ihre Stute keine Schuld traf. Joshi hatte Angst. Wie sie.
    Unter ihnen tobte der Fluss, Stromschnellen ließen weiße Gischt aufspritzen, da, wo sie auf die Felsen stießen, die überall aus dem Wasser ragten. Das Sonnenlicht brach sich darin zu Regenbögen, die in allen Farben schillerten. Bei anderer Gelegenheit hätte Kathryn dieses Naturschauspiel sicher wunderschön gefunden. Jetzt war sie nass bis auf die Haut von der Schwüle des Urwalds, und der emporstäubende, gletscherkalte Wassernebel machte sie frösteln.
    Mit einer Hand umklammerte sie das raue Wollseil, das seitlich der Brücke gespannt war. Nicht eine Sekunde zu früh, denn ein Tritt des Lastpferdes versetzte der wackeligen Konstruktion eine unerwartete Schwingung. Kathryn glitt aus, und das Seil schnitt sich schmerzhaft in ihre Hand. Es brannte höllisch. Die junge Frau blieb auf den glitschigen Bambusstäben sitzen, einem Nervenzusammenbruch nahe. Sie rieb ihre malträtierten Glieder. Bald würde es dunkel werden. Sie durfte jetzt nicht den Kopf verlieren.
    Und auf keinen Fall durfte sie vor Ermattung einnicken.

Jersey
    1990 bis 1991
    Lady Kathryn kehrte zurück aus ihrer Erinnerung. Immer noch saß sie an ihrem Biedermeiersekretär. Vielleicht wäre es besser, vorher alles aufzuschreiben? Sie blickte auf das leere Blatt Papier, das vor ihr lag, und formulierte in Gedanken den ersten Satz.
    Lieber Charles, du hast dein Leben lang geglaubt, dein Vater wäre Lord Alfred Taintsworth, doch in Wirklichkeit bist du weder adlig noch britisch. Dein leiblicher Vater war ein Deutscher, und ihn habe ich mehr geliebt als …
    Mehr als was? Als ihr Leben? Als ihren Sohn? Ihre Familie? Ja, es war so verdammt schwer, die richtigen Worte zu finden. Ach, musste sie es denn wirklich sagen?
    Aber andererseits hatte Charles ein Recht auf die Wahrheit. Und Miles. Oder tat die Wahrheit nur weh und nützte niemandem? Charles’ leiblicher Vater lebte nicht mehr, er wusste nicht einmal … Und so richtig viel Ähnlichkeit, das musste sie zugeben, hatten beide Nachkommen, weder Sohn noch Enkel, mit ihm nicht. Wütend schlug Kathryn mit der Faust auf ihren Sekretär. Warum musste es so kompliziert sein! Immer noch, obwohl sie sich seit nunmehr sechzig Jahren den Kopf darüber zerbrach.
    Kathryn blickte wieder aus dem Fenster, stand auf und beobachtete Miles. Eine Woge der Zärtlichkeit für dieses Kind durchflutete sie. Gerade unterbrach Miles seine Forschungsarbeit, er ließ die Lupe fallen …
    Wie bitte? Kathryn stutzte. Sah sie richtig? Das konnte doch nicht angehen! Wenn es das war, was sie jetzt dachte, dann …
    Der Schmerz fuhr in sie hinein, nicht spitz wie gewohnt, sondern dumpf, schwer, irgendwo zwischen dem Bauch und dem Brustkorb. Dieses Mal war er zu stark, er machte sie beinahe bewegungsunfähig. Kalter Schweiß brach ihr aus. Alles krampfte sich zusammen, ihr linker Arm fühlte sich lahm an, sie spürte Todesangst, ihr Denken versagte jäh.
    Kathryn schaffte es gerade noch, sich zum Bett zu schleppen und brach darauf zusammen. Als der kleine

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