Die Rose von Darjeeling - Roman
die Möglichkeit, die verschiedenen Völker näher kennenzulernen.
Nach der Schwüle tat ihnen die kühlere Luft weiter oben wohl, auch wenn der Höhenunterschied fast allen Kopfschmerzen bereitete. Die Lasttiere der Kolonne erklommen die Steigungen hintereinander, bis sie einen Bergkamm erreichten. Hier hielten die Kulis ohne Kommando. Gustav wollte sie zur Ordnung rufen, um seine Autorität zu wahren.
»Lassen Sie die Männer machen«, beschwichtigte Colonel Robbins.
Die Träger spannten unter Gesängen bunte Gebetsfahnen auf. Sie baten die Götter um Beistand und dankten ihnen, dass sie den Pfad beschreiten durften. Auf die Fahnen waren Gebete, Symbole, Mantras und Anrufungen geschrieben.
Einer der Tibeter weihte Gustav und Carl ein. »Wind trägt gute Wünsche zu Göttern. Ist gut für deine Gesundheit, wenn du Fahne aufhängst. Und ist auch gut für Nachbarn, er spürt gute Schwingung.«
»Hokuspokus«, flüsterte Gustav Carl zu.
»Schaden kann’s aber nicht«, erwiderte der. »Wenn die Männer daran glauben, fühlen sie sich jedenfalls schon mal besser. Und das ist auch gut für uns.«
Am Nachmittag erreichten sie das nächste Gästehaus. Hier lagerten bereits übel riechende und verwanzte Händler, die unterwegs waren, um eine Herde tibetanischer Ponys nach Bengalen zu treiben. Es gab zwar noch ausreichend Schlafstellen im Haus, doch Carl und Gustav beschlossen, lieber in ihren Zelten zu übernachten.
»Da«, sagte Carl zu Kathryn und warf ihr einen Packen vor die Füße, »unser Reservezelt. Aufbauen kannst du es ja sicher allein.«
Einer der Leibdiener wollte ihr zu Hilfe eilen. Doch Carl hielt ihn zurück. »Sie möchte das allein machen.«
»Aber mit Vergnügen«, flötete Kathryn. Als sie sich unbeobachtet fühlte, biss sie die Zähne zusammen und murmelte: »Charmanter Bursche!«
Sie beobachtete, wie die anderen ihre Zelte aufstellten. Tatsächlich schaffte sie es allein. Die Pfadfinderei hatte sich wohl doch gelohnt.
»Colonel Robbins«, sagte Kathryn schmeichelnd, als sie sich gegen Abend am Lagerfeuer aufwärmte, »ich möchte zu gern die wilden Tiere an der nächsten Wasserstelle beobachten. Es ist jetzt die richtige Zeit dafür. Wollen Sie mich vielleicht begleiten?«
Robbins war ein gelernter Gentleman, noch dazu beeindruckte ihn, dass Kathryn eine Teepflanzertochter war. Und er fand sie wirklich reizend. »Sehr gern, Miss. Ich hole mein Fernglas.«
»Wir wollten auch zum Fluss«, sagte Gustav, der mit Carl die Gewehre reinigte. »Da können wir ja zusammen gehen.«
Kathryn und die Männer wanderten zur nächsten Wasserstelle am Fluss, einer kleinen Bucht mit Sandbänken. Wie meist herrschte Südwind, und sie legten sich so ins Gebüsch, das die Tiere keine Witterung aufnehmen konnten. Nach und nach kamen sie, um ihren Durst zu stillen. Zuerst ein Hirsch, dann kleine Bären.
Das milde Licht der Abendsonne fiel auf Kathryns Gesicht. Sie zwinkerte dem verlegenen Engländer zu, der schon gemerkt hatte, dass er als eine Art menschlicher Puffer zwischen Carl und Gustav auf der einen Seite und Kathryn auf der anderen herhalten musste. Die beiden Deutschen unterhielten sich nämlich leise miteinander, ohne die junge Frau auch nur zu beachten.
»Da drüben, Colonel«, flüsterte Kathryn jetzt zuckersüß, »ist das ein Sambahirsch?«
»Ja, Miss Whitewater.«
»Ach, sagen Sie doch Kathryn zu mir.«
»Ja … äh … danke. Ich heiße Frank, Miss … äh …Kathryn.«
Kathryn sah mit Genugtuung, dass Carl und Gustav zu ihr und Frank Robbins herüberschauten.
Eine Sippe struppiger Affen richtete sich im Baumwipfel zur Nachtruhe ein. Ihr Fell war hellbeige, ihr Gesicht dunkel, sie wirkten possierlich und beinahe menschlich.
»Goldlanguren!«, raunte der Colonel.
Kurz darauf ertönte der schrille Warnruf eines Pfeifhasen. Und in ihrer Nähe ließ sich ein Vogel mit großem orangefarbenem Schnabel und mächtigem Kopf nieder.
»Oh, sieh doch, Frank!«, jubelte Kathryn im Flüsterton, »dieser herrliche Vogel! Wie mag er nur heißen?«
Frank Robbins richtete sein Fernglas ganz woanders hin. Er legte einen Finger an die Lippen und zeigte dann ein Stück flussaufwärts. Dort, am anderen Ufer, kniete ein Schneeleopard und trank Wasser. Nur die Spitze seines langen, kräftigen Schwanzes bewegte sich dabei genüsslich.
Gustav hob sein Gewehr. Ein Leopardenfell in der Eingangshalle des ter-Fehn-Stammhauses in Ostfriesland würde wahrlich Eindruck machen.
Kathryn hielt entsetzt den Atem an.
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