Die Rose von Darjeeling - Roman
Oh, bitte nicht, dachte sie. Erleichtert sah sie dann, dass Carl eine Hand auf Gustavs Arm legte.
»Er ist zu weit weg«, sagte er leise.
Sein Freund ließ das Gewehr wieder sinken. So beschränkten sie sich darauf, das prächtige Tier zu beobachten. Den Gipfel erreichte das Naturschauspiel, als ein großer schwarzer Vogel herbeiflog und den Leoparden zu necken begann. Die Riesenkatze setzte sich auf die Hinterpfoten und schlug mit der Tatze in die Luft, der Vogel kehrte dennoch mehrfach zurück, er hatte offenbar seinen Spaß an diesem Spiel.
Kathryn hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut zu lachen. In ihren Augen lag die reine Freude. Sie sah Gustav und Carl an. Beiden fiel es offenkundig schwer, nicht zurückzulächeln. Kathryn spürte, dass die zur Schau getragene Schroffheit nur noch eine dünne Hülle war. Dass darunter ebenso große Freude an der Natur, am Leben, am Abenteuer vibrierte. Diese Gewissheit zauberte ihr ein feines Lächeln ins Gesicht.
Kathryn hatte ihren Spaß daran, dass die Männer sich jetzt noch Strenge auferlegten. Sie wusste, lange würden sie es nicht mehr durchhalten. In ihr jubilierte es längst. Dieses außergewöhnliche Gefühl, das sie bei der Ankunft von Carl und Gustav in Geestra Valley verspürt hatte, erfüllte sie wieder ganz und gar.
Am nächsten und am übernächsten Tag war das Wetter durchwachsen. Sie zogen weiter auf schmalen Pfaden über baumlose Bergkämme. Gelegentlich begegneten ihnen Mönche oder Einheimische, die in geflochtenen Kiepen ihre Ernte zum nächsten Markt brachten. Auf einer Reisterrasse am gegenüberliegenden Berg trieb ein Bauer seinen Pflugochsen an – wodurch Kathryn die große Ruhe in diesem Land, in dem es nicht einmal eine Eisenbahnlinie gab, nur noch mehr bewusst wurde.
Colonel Robbins erzählte von einem Kloster in der Nähe. »Es ist über zweihundert Jahre alt und wirklich sehenswert. Der oberste Lama ist als Rinpoche, als weiser Lehrer, weithin bekannt. Und seine Prophezeiungen treten angeblich immer ein.«
Sie machten einen Umweg dorthin. Robbins hoffte insgeheim, einen entscheidenden Wink zu bekommen. Er wusste immer noch nicht, ob er Kathryns illegale Einreise melden sollte oder nicht. Wenn er es nicht täte, und es käme heraus, könnte er seine Stellung verlieren. Andererseits …
»Sieht aus wie eine Fata Morgana«, staunte Gustav, als er das Kloster in der Ferne erblickte.
Das Gebäude hatte drei Stockwerke, die nach oben hin kleiner wurden, und es wirkte wie ein Schloss aus dem Märchen mit seinen geschwungenen Drachendächern und den vielen bunten Verzierungen. Die rot gestrichenen Säulen am Eingang wiesen gelbe Längsstreifen auf, die Fensterrahmen waren in fröhlichem Türkis gehalten. Gähnende junge Mönche drehten Gebetsmühlen, was, wie der Colonel erklärte, ihr Karma im Speziellen und die Welt im Allgemeinen verbessern sollte.
Je näher sie kamen, desto lauter hörten sie aus dem Kloster fremdartige Gesänge. Sie schauten durch ein Fenster und sahen kahlköpfige Mönche, die sich auf dem Boden hinter langen, niedrigen Tischen gegenübersaßen. Abwechselnd ertönten kehlige Untertongesänge und Meditationsmusik. Die rhythmischen Trommeln, Flöten und Zimbeln klangen in den Ohren der Europäer eher unmelodiös. Doch unter ihren Trägern befanden sich einige Buddhisten, die vor Ehrfurcht erschauerten und dreimal um das Kloster herumschritten.
Ein alter Mönch begrüßte sie. Robbins übersetzte seine Worte. »Falls ihr das Kloster ansehen möchtet, seid ihr willkommen. Ihr müsst aber warten, bis die Andacht vorüber ist.«
Carl ließ fragen, ob er fotografieren dürfe. Es wurde ihm nicht gestattet.
»Diese Räume sind heilig«, sagte der Mönch. »Aber der Rinpoche wird euch gern durch unser Kloster führen.«
Sie nahmen im Vorhof Platz. Die ungewohnten Klänge berührten Kathryn, sie spürte sie körperlich wie ein monotones, aber angenehmes Streicheln. Auch die Männer an ihrer Seite horchten aufmerksam und entspannten sich immer mehr.
Über ihnen ließ sich ein Raubvogel von der Thermik in Spiralen aufwärtstreiben. Sie folgten mit ihren Blicken seiner Flugbahn und verloren dabei allmählich ihr Zeitgefühl.
Endlich empfing sie das geistliche Oberhaupt, Minglin Rinpoche, in einem bis auf den letzten Zentimeter bunt ausgemalten Raum. Flackernde Butterlampen ließen ihre Schatten über die Fratzen und Götterdarstellungen huschen, in denen die Farben Türkis und Korallenrot vorherrschten, überall
Weitere Kostenlose Bücher