Die Rose von Darjeeling - Roman
schroffen Schluchten bot sich ihnen jetzt ein Ausblick in eine grandiose baumlose Weite.
Man kann es tausendmal lesen, auf Bildern sehen oder beschrieben bekommen, dachte sie, nichts vermag einen solchen Eindruck richtig wiederzugeben. Diese Größe der Natur muss man am eigenen Leib erfahren. Eigentlich sollte jeder Mensch dieses Privileg haben. Wenigstens einmal im Leben.
Zu ihren Füßen auf einer blumenübersäten Passwiese mit den schönsten Gräsern nickten neben gelben Orchideen, pinkfarbenen Primeln, Ranunkeln in allen Pastellfarben und diversen, ihr unbekannten Blütenschönheiten zarte, langstängelige lila Glockenblumen im Wind, während Teppiche von Heilkräutern ihre wohltuenden würzigen Aromen verströmten.
Und an diesem Ort erwartete sie die Vorhut mit heißem Tee, knusprigen Keksen und gilgit, köstlichen getrockneten Aprikosen. Ein kleiner Ofen spendete ihnen Wärme.
Während Carl sich gleich wieder den seltenen Pflanzen zuwandte, schlug Gustav mit den Trägern zusammen im Bergschatten die Zelte auf. Ihr eigenes Lager bereiteten die Träger ein Stück entfernt davon.
Kathryn versorgte ihre Pferde, dann setzte sie sich mit der Pferdedecke zu Carl auf die Wiese. Er zeichnete eifrig. Sein kräftiges Haar war gewachsen und fiel ihm in die Stirn, was ihm etwas Verwegenes gab. Unbewusst strich er es mit einer Hand energisch zurück. Kathryn schloss erschöpft die Augen und genoss die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Sie hörte das Kratzen des Bleistifts auf dem Papier, das Palavern der Träger, das Klappern mit dem Blechgeschirr und rollte sich schläfrig auf der Seite zusammen.
Als sie die Augen wieder öffnete, lag sie immer noch so da, eingemummelt in eine Männerjacke. Carls Blick ruhte auf ihr. Er lächelte nicht, er betrachtete sie ernst, aber wohlwollend und aufrichtig. Kathryn sah in das Mondwindenblau seiner Augen und versank darin. Wieder erfüllte es ihr Herz mit Leichtigkeit und Freude. Alles stand Kopf! Kathryn kam sich vor wie die Glücksmarie im Märchen, die durch einen Brunnen in das Reich von Frau Holle fiel, tief nach unten in einen wolkenlosen Himmel.
»Hey!«, rief Gustav. »Es gibt Rührei, wenn ihr euch nicht beeilt, ist gleich nichts mehr da.«
Kathryn holte sich aus ihren Träumen und sprang auf. Sie merkte erst jetzt, wie sehr ihre Knochen und Muskeln schmerzten. Auch Carl erhob sich. Er steckte sein Büchlein in eine Lederhülle, die er sorgsam mit einem Lederband umwickelte und dann in seine Brusttasche schob.
Als sie mit den anderen im Kreis saßen und aßen, holte Gustav die Karte hervor, und sie verfolgten die Strecke, die sie an diesem Tag geschafft hatten.
»Ungefähr zwanzig Kilometer«, schätzte Gustav. »Unter diesen Bedingungen nicht schlecht. Morgen wird es kälter werden, zieht euch wollene Unterwäsche an. Sirdar, was sagst du, wie wird das Wetter?«
»Es könnte ein schneidender Wind aufkommen«, gab der Sirdar zurück, »aber sonst sieht es gut aus.«
Der Mond ließ Kathryn in dieser Nacht nicht schlafen. Nein, es lag wohl auch an den überwältigenden Naturerlebnissen, dass sie nicht in den Schlaf fand. Und an der Kälte. Sie setzte sich auf, zog noch eine Wolljacke über. Leise verließ sie ihr Zelt, um niemanden zu wecken. Aus dem Zelt von Colonel Robbins klang ein regelmäßig an- und abschwellender Pfeifton, aus dem Lager der Träger wehte vielstimmiges Schnarchen herüber. Ein Pferd scharrte und schnaubte, ein Nachtvogel schrie.
Der Mond schien so hell, dass Kathryn keine Lampe benötigte. Sie konnte ihren Atem sehen. Vorsichtig schlich sie zu einem Felsen und blieb dort wie angewurzelt stehen. Die Wolkenschleier zerrissen in diesem Augenblick, und das Bild, das sich ihr nun bot, wirkte auf sie, als habe jemand den Vorhang zum Jenseits weggezogen. Sie schaute direkt hinein in den göttlichen Himmel! Wenn dort jetzt Engelsscharen auftauchten, würde es sie nicht noch mehr erschüttern können. Mit klopfendem Herzen verharrte Kathryn.
Die gezackte Silhouette der Berge hob sich gegen das tiefblaue Firmament ab. Die Sterne funkelten in Rot und Gelb und Bläulichviolett. Wolkenfetzen schwebten auf halber Höhe. Gestochen scharf erhob sich darüber der Gipfel des Kangchendzönga im Mondlicht.
Kathryn sog tief die kühle Nachtluft ein. Vor dem Schlafengehen hatte Carl auf die Glut des Lagerfeuers einige jener Rhododendronblätter gelegt, die von Mönchen für Zeremonien zum Räuchern verwendet wurden. Es duftete noch danach. Nach frischem Holz,
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