Die Rosen von Montevideo
gezogen, was sehr lächerlich aussah. Doch Claire war nicht zum Lachen zumute. Als sie die ernsten, aufgeregten Gesichter sah, erfasste sie eisiger Schrecken: Gewiss war Valeria etwas Schlimmes zugestoßen!
Sie entdeckte ihren Vater, der am Fenster stand, und stürmte auf ihn zu.
»Vater, es tut mir so leid, dass ich dich gestern Abend angelogen habe, aber Valeria …«
»Nicht jetzt«, unterbrach er sie.
»Diese verfluchten Schweine!«, tobte Alejandro.
Wen, zum Teufel, meinte er?
Carl-Theodor war ihr verwirrter Gesichtsausdruck nicht entgangen.
»Eine Gruppe Paraguayer haben Waffen gestohlen, die Julio von französischen Händlern gekauft hat.«
»Schlangenbrut! Teufelssöhne!«, schrie Alejandro.
»Wie konnten sie sie einfach stehlen?«, fragte Claire geistesabwesend. Sie begriff nur langsam, dass all die Aufregung nichts mit Valeria zu tun hatte.
Anstatt zu antworten, sinnierte Carl-Theodor laut: »Die fehlenden Waffen sind die größte Schwäche der Paraguayer. Eigentlich stellen sie das beste Heer Südamerikas.«
»Diese Diebe, diese gemeinen Hunde!«, brüllte Alejandro.
Julio ging inzwischen unruhig auf und ab: »Die Masse der paraguayischen Infanterie ist mit uralten Steinschlossflinten aus der spanischen Kolonialzeit bewaffnet, sogar alte preußische Kuhfuß-Gewehre und französische Clarinettes sind noch in Gebrauch. Eine Schwadron des Kavallerie-Regiments, so hat man mir berichtet, führte überhaupt nur Lassos und Boleadoras, eine Schleuderwaffe, mit sich. Ihre schlechten Waffen waren immer der größte Vorteil unserer Allianz – aber nun haben sie meine.«
Er ballte seine Hände zu Fäusten.
»Dreckspack!«, schimpfte Alejandro.
»Aber wie konnten die Waffen denn gestohlen werden?«, fragte Claire bestürzt.
Alejandro und Julio beachteten sie nicht, aber Carl-Theodor erklärte leise: »Die Waffenlieferung ist erst kürzlich aus Frankreich eingetroffen und wurde in einer Halle nahe dem Hafen gelagert. Ich wusste nichts davon.«
Claire hatte in diesem Moment keinen Kopf für den missbilligenden Tonfall des Vaters, der mit Waffengeschäften anscheinend nichts zu tun haben wollte. Entsetzt schrie sie auf.
»Claire? Was hast du denn? Du bist ja kalkweiß im Gesicht!«
»Valeria … im Lagerhaus …«, stammelte Claire.
»Was redest du denn da?«
Claire atmete tief ein, ehe sie in knappen, wirren Sätzen erklärte, was geschehen war. Diesmal hörten ihr alle zu – doch kaum hatte sie berichtet, dass Valeria gestern Abend in besagte Lagerhalle aufgebrochen war, um Isabella Stoff für ein Kleid zu beschaffen, und nicht nach Hause gekommen war, redeten sie wild durcheinander.
»Die Bastarde werden es nicht wagen, sich an meiner Enkelin zu vergreifen!«, polterte Alejandro und bezeichnete Valeria zum ersten Mal so.
»O mein Gott!«, rief Carl-Theodor. »Ich trage doch Verantwortung für sie.«
»Wir müssen sofort die Polizei informieren«, sagte Julio kopfschüttelnd. »Was für ein dummes Mädchen!«
Aus Leonora platzte es ganz ohne üblichen Respekt heraus: »Lernt man in Europa nicht, wie man sich als junge Frau zu benehmen hat? Einfach aus der Oper verschwinden …«
»Und das alles nur meinetwegen«, klagte Isabella.
Nur Claire sagte nichts. Die Angst um ihre Cousine war so groß, dass sie sie nicht in Worte fassen konnte.
Valeria wusste nicht, wohin sie ritten. Zunächst war es stockdunkel, so dass sie kaum die Hand vor ihren Augen sehen konnte, und sie wertete das als Zeichen, dass sie die Stadt hinter sich gelassen hatten. Angestrengt lauschte sie auf das Meeresrauschen, das – so überreizt, wie ihre Sinne waren – wie Donnergrollen klang. Doch trotz des Sturms wurde es immer leiser und ebbte zu einem fernen Plätschern ab. Offenbar hielten sie auf das Landesinnere zu.
Staub und Sand prasselten ihr ins Gesicht, und sie schloss hastig die Augen. In den nächsten Stunden versuchte sie, sich einzig darauf zu konzentrieren, ruhig zu atmen. Als der Sturm endlich nachließ, ging die Sonne auf – ein rotglühender Ball, der das karge, flache Land beleuchtete. Sie blickte sich um. Die erste Wegstrecke hatte man sie wie einen Sack Mehl über das Pferd geworfen. Später wurde ihr erlaubt, sich aufzurichten, und sie saß nun wie ein Mann im Sattel – dicht an einen ihrer Entführer gepresst, der nach Schweiß und altem Leder roch. Sie fühlte seinen festen Griff, wagte es jedoch nicht, sich zu ihm umzudrehen, sondern musterte stattdessen die Pferde. Diese hatten
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