Die Rosen von Montevideo
»Ja, Paraguay war bis vor kurzem ein reiches Land. Mag sein, dass wir uns dem Außenhandel verschlossen haben, aber nicht, weil wir so rückständig sind, sondern weil die Güter der einheimischen Fabriken durch Zölle geschützt werden sollten. Unter Lopez muss keiner Hunger leiden, es gibt ein gut ausgebildetes Heer und ein geordnetes Schulwesen. In ganz Paraguay wirst du kein Kind finden, das nicht lesen und schreiben kann. Wir haben nicht nur ein Telegraphennetz und eine Eisenbahnlinie, sondern eine beträchtliche Anzahl Fabriken, wo Töpferwaren, Schießpulver sowie Ponchos, Papier, Tinte und Baumaterial hergestellt werden. Gewiss, die Nachbarländer haben das auch – aber sie alle stehen in der Schuld der Briten. Wir nicht. Und es ist auch nicht so, dass wir wie Gefangene im eigenen Land gehalten werden, wie oftmals behauptet wurde. Viele junge Universitätsstudenten werden dank Stipendien von Lopez nach Europa geschickt. Wenn der Krieg nicht ausgebrochen wäre, wäre ich wohl selbst darunter.«
Er konnte es nicht verhindern, dass seine Stimme, eben noch hart und stolz, einen sehnsuchtsvollen Klang angenommen hatte. Bis jetzt hatte Valeria so getan, als hätte sie nicht zugehört, doch nun kam sie nicht umhin, sich ihm erneut zuzuwenden und ihn zu mustern. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass unter den wilden Männern gebildete waren. »Du tust ja gerade so, als wäre deine Heimat das Paradies.«
»Verglichen mit Uruguay, ist sie das auf jeden Fall. Euer Land ist geschwächt. Ständig wechseln die Präsidenten, und ein tiefer Riss geht durch die Gesellschaft. Hätten die Briten es nicht verhindert, es wäre schon des Öfteren ein Bürgerkrieg zwischen Colorados und Blancos ausgebrochen. Warum gibt es bei euch viel weniger Schulen als bei uns? Wieso besucht an manchen Orten nur ein Kind von drei Dutzend die Schule?«
Valeria runzelte die Stirn. »Dennoch, Lopez hätte sich nicht in uruguayische Angelegenheiten einmischen sollen. Das war doch der Beginn des Krieges.« Trotz der entschlossenen Worte wirkte sie etwas unsicher.
»Die Einzigen, die sich nicht hätten einmischen sollen, sind die Engländer«, knurrte er.
»Was haben denn die Engländer mit dem Krieg zu tun?«, fragte sie erstaunt.
»Nun, alles. Die britischen Kaufleute befürchteten, dass unser Beispiel – nämlich wirtschaftlich ganz und gar unabhängig zu sein – Schule macht. Nicht nur, dass wir keine Waren exportieren, wir kaufen auch keine vom Ausland, folglich von den Briten. Auf diese Weise sind wichtige Absatzmärkte verlorengegangen – ob für Matetee und Quebracho-Holz, auch Mahagoni und andere seltene Holzarten aus dem Chaco. Kein Wunder, dass die Briten auf militärische Gewalt setzen. Sie machen sich zwar nicht selbst die Hände schmutzig, aber womit, glaubst du, finanziert die Tripelallianz den Krieg? Durch Anleihen bei englischen Banken. Und warum, glaubst du, sind Argentinien und Brasilien in den Krieg eingestiegen? Weil sie bei England stark verschuldet waren. Im Grunde führen wir nicht mit ihnen Krieg, sondern mit den Kaufleuten von Liverpool, Bristol, London und Glasgow. Nur dank der Briten werden der Tripelallianz Waffen und Munition so schnell nicht ausgehen.«
Valeria wirkte nun regelrecht bestürzt. »Das … das kann ich nicht glauben.«
»Es wurde schon ausgehandelt, wie man nach dem Krieg das Land aufteilt. Die Grenzmächte erhoffen sich weite Landstriche im Osten und Süden – und die britischen Handelshäuser gieren nach den Rohstoffen Paraguays.«
Er überlegte, was er ihr noch entgegenhalten konnte, sah dann aber ein, dass es weiterer Argumente nicht bedurfte. Sie starrte ihn in einer Mischung aus Ratlosigkeit und Betroffenheit an, ehe sie kleinlaut murmelte: »Das wusste ich nicht.«
Fast war er enttäuscht, dass der Widerspruch, gegen den er sich schon gewappnet hatte, ausblieb. Widerwillig musste er sich eingestehen, dass es ihm durchaus imponierte, wie ernst sie ihn nahm, anstatt ihm trotzig Parolen der Propaganda an den Kopf zu schmeißen. Sie hasste ihn bestimmt nach all dem, was sie ihr angetan hatten, doch das hinderte sie nicht daran, ihren Verstand zu benutzen. Er hatte gelehrtere, vernünftigere Männer erlebt, die sich ungleich schwerer taten, Gefühle hintanzustellen.
Sein Bruder Pablo hätte nicht einmal geglaubt, dass der Himmel blau und das Feuer heiß war, wenn es ein Feind behauptet hätte.
Pablo war es auch, der nun zu ihm aufschloss: »Was hast du mit ihr zu schwatzen?«,
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