Die Rosen von Montevideo
Antonies Seite befallen, deren Gesellschaft er am besten ertrug, wenn er sich weitgehend tot stellte. Wie aus weiter Ferne schien er dann sich selbst zuzusehen, in einem Leben gefangen, das er nur ertrug, nicht genoss, und das sich anfühlte, wie in der Kleidung eines Fremden eingezwängt zu sein.
Ein wenig hatte ihn noch Espes Gegenwart aus der Melancholie gerissen, die vor einigen Wochen angereist war. Sie war die Erste, vor der er die Wahrheit schonungslos bekennen konnte, dass Valeria nämlich so gut wie tot war – und nicht länger Hoffnung heucheln zu müssen, hatte ihm unerwartet Trost gespendet. Doch Espe war nicht lange genug geblieben, um ihm mit ihrer ruhigen, besonnenen, weisen Art zu helfen, die Lethargie abzuschütteln. »Meine Schwester lebt im Landesinneren«, hatte sie verkündet. »Sie hat das zweite Gesicht, vielleicht kann sie mir sagen, wo Valeria ist.«
Carl-Theodor war erstaunt gewesen, denn er hatte nicht gewusst, dass Espe noch Verwandtschaft in Uruguay hatte. Er musste sich eingestehen, dass er sich nie sonderlich für sie interessiert hatte, nie nachgefragt, woher sie kam und warum sie treu an Rosas Seite stand. Die ganze Familie, dachte er bekümmert, sie lebt nebeneinanderher, anstatt miteinander … Nur Claire und Valeria standen sich nahe, und ausgerechnet die beiden waren nun womöglich für immer getrennt …
Seit Espes Aufbruch war er noch häufiger aus dem Haus der de la Vegas’ geflohen – und hatte noch mehr getrunken.
Schritte näherten sich, er blickte hoch und sah die Wirtin auf sich zukommen.
Er wusste, dass sie Susanna Weber hieß und aus Lüneburg stammte, kaum mehr. Sie hatten zwar schon des Öfteren miteinander geplaudert, aber ihre Gespräche begrenzten sich auf das Wetter oder den unseligen Krieg. Einmal hatte sie erwähnt, dass sie nach dem Tod ihres Mannes das Wirtshaus allein führte – ein hartes, anstrengendes Geschäft, aber nichts, dem sie nicht gewachsen war. Mit ihrer dunklen Stimme konnte sie mühelos den Angestellten Befehle erteilen, die Betrunkenen nach Hause schicken und den Zechprellern einheizen. Natürlich kostete es Kraft, sich diesen Respekt zu verschaffen. Ihr einstmals wohl blondes Haar war verblichen und stand immer etwas wirr vom Kopf ab, ihr Gesicht war voller Kerben, der Gang schwer. Trotzdem fand Carl-Theodor sie schön – gerade weil sie von den vielen Anstrengungen gezeichnet war. Ihre Augen blickten wach, ihr breiter, rundlicher Körper wirkte warm. Sie glich einem jener knorrigen Bäume hierzulande, die sich mit kargem Boden begnügten, dem Wind trotzten und dennoch dann und wann Blüten trieben, und schien ihm alles in allem ehrlicher als kühle Schönheiten wie Antonie.
Susanna blickte auf seinen Bierhumpen: »Das ist aber der letzte«, erklärte sie.
Bestürzt erhob er sich. »Ist etwa schon Sperrstunde? Das tut mir leid! Ich habe die Zeit übersehen.«
Sie legte ihre Hand auf seine Schultern und drückte ihn energisch zurück auf die Bank. »Keine Sorge, hier gelten spanische Gesetze. Es wird später gegessen und länger getrunken, und so etwas wie Sperrstunden kennt man nicht. Natürlich bleiben Sie noch, aber Sie trinken nicht mehr so viel.«
Ihre Stimme klang streng, und er fügte sich gerne und nahm nur zögerlich einen weiteren Schluck.
Anstatt in die Küche zurückzukehren, setzte sie sich zu ihm auf die Bank.
»Das heißt, Sie bleiben nur, wenn Sie mir erzählen, was Sie so traurig macht«, fügte sie hinzu.
Er blickte sie verwundert an. »Was meinen Sie?«
»Wir kennen uns schon eine Weile, und darum ist mir nicht entgangen, wie kummervoll jüngstens Ihre Miene ist, Señor Gothmann. Wirklich glücklich wirkten Sie nie, aber jetzt …«
»Nun ja …«, begann er zögernd. Wie verführerisch es war, den Mund aufzumachen und zu reden, bis er alles losgeworden war – die vielen Sorgen um Valeria, die bittere Einsicht, dass sie wohl nicht mehr lebte, das schlechte Gewissen, weil er doch die Verantwortung für sie trug. Schließlich auch den Kummer angesichts der wachsenden Entfremdung von ihm und seiner Tochter, und sein Zaudern, nach Deutschland zurückzukehren und Rosa und Albert die Wahrheit zu berichten.
Kurz zögerte er, aber als Susanna ihm aufmunternd zunickte, sprudelte es förmlich aus ihm heraus. Er sprach mindestens eine Viertelstunde, anfangs wirr und schnell, später mit langen Pausen und brüchiger Stimme.
Susanna lauschte aufmerksam und voller Mitleid.
»Dieser verdammte Krieg«, sagte
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