Die Rosen von Montevideo
sie. Valeria fühlte sich erschöpft wie nie. Selbst in Pablos Gegenwart hatte sie sich nie so bedroht und zugleich ausgelaugt gefühlt wie auf dieser Reise durch die Hölle. Am liebsten hätte sie sich irgendwo im Wald verkrochen, um nichts mehr zu sehen und zu hören, vor allem, um Valentín an sich zu ziehen, zu umarmen und ihm all die düsteren Gedanken auszutreiben. Aber sie wusste, dass es unmöglich war und dass er entsetzlich litt, auch wenn er nicht laut klagte, nur schließlich leise feststellte: »Das Land geht langsam, aber sicher zugrunde.«
»Bereust du es?«, fragte sie bang. »Ich meine, dass du mit mir gekommen bist. Fühlst du dich schuldig, dass du deinen Bruder im Stich gelassen hast?«
»Mein Bruder würde mich töten, wenn ich jetzt vor ihn träte. Für ihn bin ich ein Verräter, und es war richtig, mich von ihm loszusagen. Aber meine vielen Landsleute … Ich sollte mit ihnen leiden … und kämpfen.«
»Dann tu es!«, rief sie eindringlich. »Du musst dich mir nicht verpflichtet fühlen. Folge deinem Herzen!«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann dich nicht alleinlassen. Nicht zu wissen, dass du gut nach Hause kommst, würde ich nicht ertragen. Nein, es gibt keinen Weg zurück. Ich habe mich entschieden – und muss damit leben. Ich bin nicht länger Pablos Bruder oder Paraguays Sohn.«
Aber was bist du dann?, fragte sich Valeria, sprach es jedoch nicht laut aus. Sie gingen weiter, und sie fühlte, dass es ihm jeden Tag, da sie auf neue Tote und Zerstörung trafen, mehr das Herz zerfraß. Würde etwas übrig bleiben, um sie zu lieben? Um irgendwann ein neues, glückliches Leben zu beginnen?
So schuldig, wie er sich an seinen Landsleuten fühlte, fühlte sie sich an ihm.
»Du hast doch immer davon geträumt, in Europa zu studieren«, sagte sie, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. »Vielleicht gibt es jetzt eine Möglichkeit. Mein Onkel Carl-Theodor … er wird uns sicher helfen. Wir können nach Frankfurt reisen und dort …«
Sie brach ab. In Frankfurt warteten ihre Eltern, die ihre eigene Tochter nie verstanden hatten und gewiss nicht gutheißen würden, dass sie einen Paraguayer, obendrein ihren Entführer, liebte.
»Ehe wir überlegen können, wie es weitergeht, müssen wir erst einmal heil nach Montevideo kommen«, sagte Valentín.
Die erste Wegstrecke brachten sie noch schnell hinter sich – eine ungleich größere Herausforderung war es, allein auf dem Río Paraguay zu reisen. Da Valentín es als zu gefährlich befand, zu zweit den Dschungel zu durchqueren, galt es, eine viel längere Strecke als beim ersten Mal auf dem Wasser zurückzulegen. Zwei Hindernisse konnten sie zwar aus dem Weg räumen: So fanden sie ein leckes Floß als Fortbewegungsmittel, dessen Lücke Valentín schloss; überdies baute er aus Ästen Ruder, mit denen sie nur langsam, aber stetig vorankamen. Und dass ihr Proviant längst zur Neige gegangen war, ließ sich wettmachen, indem er jede Menge Kleintiere und Fische fing.
Doch auf eine andere Bedrohung waren sie nicht vorbereitet gewesen. Das letzte Mal waren sie auf dem Fluss nur wenigen anderen Booten begegnet – nun kamen ihnen immer wieder Kriegsschiffe entgegen: kleine Kanonenboote ebenso wie bewaffnete Dampfer. Jedes Mal legten sie rasch am Ufer an und zogen ihr Boot an Land, versteckten sich im Gebüsch und beteten, nicht entdeckt, von keiner giftigen Schlange gebissen oder von Jaguaren angefallen zu werden.
Die Tiere blieben fern, als würden sie den Krieg riechen, doch als einmal zwei feindliche Schiffe zusammenstießen, wurden sie nicht nur Zeugen einer grausamen Schlacht, sondern fielen ihr beinahe selbst zum Opfer.
Die paraguayische Marine, die ansonsten in der Minderheit war, griff ausnahmsweise mit einer Flotte aus mehreren Schiffen ein brasilianisches Dampfschiff an. Schüsse fielen, Geschrei brach los, das Wasser schlug wilde Wellen. Immer wieder kam es zu Explosionen, und sie mussten sich tief ducken, um nicht von Splittern getroffen zu werden.
Nachdem sie sich eine Weile im Dickicht verkrochen hatten, wagte sich Valentín kurz hervor, um die Lage auszukundschaften.
Kopfschüttelnd kehrte er zu ihr zurück. »Die Torpedos der paraguayischen Flotten sind selbstgebastelte Dinger. Man nimmt Glaskapseln, füllt sie mit Schwefelsäure und Chlorat aus Pottasche und Zucker und umwickelt das Ganze mit Baumwolle. Das Problem ist, dass die meisten von ihnen schon vorher zur Explosion kommen und die eigenen Leute verletzen. Nur die
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