Die Rosen von Montevideo
nachmittags meist unter hohen Bäumen und inmitten dicker Büsche und duftender Blumen saß und grübelte.
Eines Tages erwartete sie dort allerdings eine angenehme Abwechslung. Ein junger Mann kam den Weg, der zum Anwesen führte, entlang, sah sich eine Weile um und betrat schließlich den Garten. Tabitha hatte ihn noch nie hier gesehen. Genau genommen hatte sie, seit sie bei Tante Claire lebte, noch nie erlebt, dass diese überhaupt Besuch bekam. Manchmal plauderte sie mit der Nachbarin, und dann gab es natürlich den Kutscher Claudio und die Haushälterin. Ansonsten aber lebte Claire völlig zurückgezogen.
Der Mann sah ungewöhnlich gut aus – muskulös, hochgewachsen, mit rotblondem Haar, das sich im Nacken lockte, ebenmäßigen Zügen, einem freundlichen Lächeln und dunklen Augen, in denen der Schalk blitzte.
Tabitha betrachtete ihn fasziniert und schimpfte sich sogleich selbst dafür. Ihre Lage war misslich genug. Besser, sie mied es, jungen Männern ungebührliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Sie wollte schon ihren Kopf senken, als sein Blick sie traf und er zu ihr trat.
»Bin ich hier richtig bei Claire Gothmann?«
Sie errötete, obwohl die Frage eigentlich harmlos war. »Das ist meine Tante«, sagte sie schnell. »Sie macht gerade einen Spaziergang. Ich glaube, sie schwimmt regelmäßig im Meer.«
Der junge Mann nickte nachdenklich. »Mein Fehler«, gestand er. »Ich hätte nicht unangekündigt herkommen sollen.«
Tabitha erhob sich und merkte einmal mehr, wie ihr Kleid spannte und sie es aufs Neue in der Höhe der Taille würde erweitern müssen. Aber in diesem Augenblick wollte sie nicht an ihre missliche Lage denken.
»Und wer sind Sie?«, wollte sie wissen. Sie betrachtete ihn genauer und überlegte, wie alt er wohl war – wohl etwas jünger als sie, siebzehn oder achtzehn Jahre.
»Antonio Silveira«, stellte er sich vor und streckte ihr die Hand entgegen. Sie zögerte kurz, aber dann ergriff sie sie. Sein Händedruck war fest und warm, sein Lächeln verstärkte sich.
»Und Sie kennen meine Tante gut?«, fragte sie neugierig.
»Erst seit kurzem. Aber mein Vater Luis ist schon seit vielen Jahren mit ihr befreundet – das vermute ich zumindest.«
Tabitha erinnerte sich vage, den Namen schon einmal gehört zu haben. Erst konnte sie ihn nicht recht einordnen, aber dann fiel es ihr wieder ein. »Die große Liebe von Tante Claire!«
Sie biss sich auf die Lippen, weil die Worte so unbeherrscht aus ihr herausgebrochen waren, doch ehe sie sie zurücknehmen konnte, nickte Antonio verständnisvoll. »So etwas habe ich mir schon gedacht. Seit sie bei uns zu Besuch war, ist mein Vater nicht mehr derselbe, müssen Sie wissen. Er ist ständig so traurig, grüblerisch und ernst. Das war er früher zwar auch oft … aber diesmal ist es anders.«
Jetzt verstand Tabitha Tante Claires Unaufmerksamkeit der letzten Wochen: Sie war Luis Silveira wiederbegegnet!
»Sie verhält sich auch merkwürdig!«, rief sie. »Sie scheint gar keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen zu können.«
Antonio seufzte. »Wie es aussieht, gehen die beiden sich seit dem Abendessen beharrlich aus dem Weg, und deswegen bin ich auch hergekommen. Ich glaube, das sollten wir unbedingt ändern.«
Tabitha hob fragend die Augenbrauen und hatte keine Ahnung, warum der junge Mann so erpicht war, einstige Gefühle des Liebespaars wiederzubeleben.
»Meine Mutter ist seit acht Jahren tot«, erklärte er, »und seitdem fehlt eine Frau im Haus. Mein Vater ist seither nie wieder richtig glücklich gewesen. Nur an dem Abend mit Claire – da haben seit langem seine Augen wieder geleuchtet. Und meine jüngeren Schwestern haben Claire sofort ins Herz geschlossen und fragen ständig, ob sie noch einmal kommt.«
»Aber wenn die beiden sich doch offenbar nicht sehen wollen …«, wandte Tabitha ein.
»Dann müssen wir eben nachhelfen!«
»Und wie?«
»Ich glaube, ich habe eine Idee.«
Sie deutete auf die Gartenbank. »Setzen Sie sich doch zu mir«, forderte sie ihn auf. Sie merkte, wie ihr der Schweiß ausbrach, weil sie so lange in der Sonne gestanden hatte, und fühlte sich dennoch beschwingt wie schon lange nicht mehr: Zum ersten Mal musste sie für kurze Zeit nicht an ihr vermaledeites Leben und José denken.
38. Kapitel
D ie Liebe machte das Leben so leicht, so bunt, so wunderbar. Carlota schien zu schweben: Vergessen war die Furcht, dass ihr Geheimnis aufgedeckt werden könnte, vorbei die Anspannung, die sie auf Schritt
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