Die rote Agenda
mehr als tausend Milliarden Lire geschätzt,
genommen hatte. Es war bei den Finanzleuten im Norden verschwunden, bei jenen
Männern, mit denen Trapani jeden Tag Geschäfte machte und die er mit
unendlicher Geduld eingekreist hatte.
Er, der
Palermitaner, der im Schoß der alten Mafia aufgewachsen war, der bevorzugte picciotto des Fürsten von Villalba, nun zum geheimen Boss
der Cosa Nostra aufgestiegen, würde sich endlich rächen können. Wenn sein Plan
aufginge, würden die Besiegten von gestern zurückkehren, die Nachkommen der
palermitanischen Familien, die man in der Zeit der großen Massaker vertrieben
hatte – und nach einem Vierteljahrhundert würde die Geschichte dort
wiederaufgenommen werden, wo sie unterbrochen worden war, nicht mehr in
Corleone, sondern in Palermo. Alles musste sich verändern, damit sich nichts
veränderte. Das wollte Matteo, und nur deshalb hatte er jahrelang die Nähe von
Männern ertragen, die er am liebsten mit eigenen Händen getötet hätte.
Er trat noch
einmal an den Spiegel und betrachtete sein Gesicht aus der Nähe. Er war mit
seinem Aussehen zufrieden, doch nach dem gesichtschirurgischen Eingriff hatte
er stets ein unangenehmes Gefühl der Fremdheit empfunden, wenn er sich ansah.
Trapani war seit mehr als sechzehn Jahren, seit die beiden Richter getötet
worden waren, auf der Flucht – wenn man es so nennen konnte, dieses goldene
Exil in einer Stadt im Norden, unter falschem Namen, mit einer unauffälligen
Tarnung und hohem Ansehen.
Auch wenn
die Ermittler ihn erst jetzt zu verdächtigen begannen, war Trapani seit
geraumer Zeit der unumstrittene [126] Boss der Cosa Nostra, derjenige, der die
Schäden, die durch die Blutbäder der neunziger Jahre angerichtet worden waren,
behoben und die Beziehungen zwischen der sizilianischen Mafia, der Politik und
der Finanzwelt wiederhergestellt hatte. Er war der erste Schattenpate der
Mafiageschichte, der Mann, den seit dem Tag seines Verschwindens niemand außer
ein paar Vertraute gesehen hatte, derjenige, der der ganzen Organisation
vorstand, ohne je in Erscheinung zu treten, ein Mann mit einer so
allumfassenden Macht, wie es in der Vergangenheit noch keinen gegeben hatte.
Manchmal
geschah es ihm, dass er an sich selbst wie an eine Art Gespenst der Mafia
dachte, dessen Befehlsgewalt alle Mafiafamilien, die diesen Namen verdienten,
unterstanden. Eine unnatürliche Situation, Ergebnis des von den Corleonesen
vollendeten Niedergangs, von dem er profitiert hatte; ein Zustand, der nicht
andauern konnte und von dem er nicht wollte, dass er andauerte. Wenn seine
Rache erst einmal vollendet wäre und die palermitanischen Familien den Platz,
der ihnen von Rechts wegen zustand, wiedereingenommen hätten, würde Matteo
Trapani abtreten, dieses Mal für immer; doch vorher würde er seinen Nachfolger
einsetzen und einem wirklichen Ehrenmann die Aufgabe hinterlassen, den
Mafiastaat zu regieren.
Trapani war
es jahrelang gelungen, die Ermittler irrezuführen und glauben zu machen, il
Vecchio sei der absolute Boss der Cosa Nostra. Diese Strategie war für seine
Tarnung sehr nützlich gewesen, bis sich das Machtverhältnis zu seinen Gunsten
verschoben hatte, weshalb er zu dem Schluss kam, dass er auf diesen Schutz
verzichten konnte, ja musste. Deshalb hatte er die Fahnder wissen lassen, wo
sich il Vecchio [127] versteckte. Es war eine jämmerliche Festnahme gewesen: Die
Polizisten der zentralen Operationseinheit SCO und des Einsatzdienstes hatten sich einem alten Männlein gegenübergesehen, in
einem Haus voller Bibeln, Andachtsbilder und lächerlicher kleinen Zettel, mit
denen er Botschaften an jene schickte, die er immer noch für »seine« Männer
hielt, einschließlich Matteo Trapani. Die Bilder des Verstecks in einem
verlassenen Dorf im Inneren der Insel waren um die Welt gegangen, und die Welt
hatte geglaubt, il Vecchio hätte die Cosa Nostra von diesem Loch aus befehligt.
Lächerlich.
Doch das
war Vergangenheit. Tage zuvor, als er aus seinem Informationsnetz die Nachricht
erhalten hatte, der erkrankte Attilio Branca schicke sich an, die berühmte
Agenda aus der Londoner Bank zu holen, hatte Trapani sofort begriffen, dass
dies eine Chance war, die er nicht verpassen durfte. Nach dem erfolglosen
Versuch, Branca zu überreden, ihm die wiederbeschaffte Agenda zu überlassen,
hatte er rasch eine Aktion in London organisiert. Doch seine Männer hatten nur
noch mit ansehen können, wie der arme Tano Terlizzi mitten auf der St. James
Street
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