Die rote Agenda
schon für
den Nachmittag einen Termin.
Während
Betta in kleinen Schlucken ihren Tee trank, fielen ihr die enthusiastischen
Worte ihrer Freundin wieder ein. »Es [240] ist tausendmal besser als eine
psychoanalytische Sitzung. Sie liest nicht nur in dir wie in einem offenen
Buch, sondern sie sieht die Vergangenheit, die Gegenwart und vor allem die
Zukunft. Und sie trifft immer ins Schwarze! Du wirst von ihr begeistert sein,
ich könnte ohne ihre Ratschläge gar nicht mehr auskommen.«
Betta
zündete sich eine Zigarette an, nahm das Handy und wählte die Nummer ihres
Mannes. Falls er sich meldete, würde sie den Termin bei dem Medium absagen.
Doch schon nach dem ersten Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein.
Genervt steckte sie das Handy in die Tasche der Jeans, stand auf und ging ins
Haus, um sich umzuziehen.
Als sie
fertig war, teilte sie der Haushälterin mit, dass sie ausgehen und nicht zu
Mittag essen werde, dann ging sie in die Küche, um der Köchin persönlich zu
sagen, dass sie und ihr Mann das Abendessen auswärts einnehmen würden. In
Wirklichkeit wusste sie nicht einmal, wo Lorenzo sich aufhielt, aber sie hatte
keine Lust, das dem Personal zu erklären. Jolanda war eine ausgezeichnete
Köchin, doch sehr empfindlich, und Betta vermied es, ihr über die Haushälterin
Anweisungen zu geben, besonders solche, die ihren Arbeitstag
durcheinanderbringen konnten.
Danach ging
sie hinunter in die Garage, stieg in ihren Mini und fuhr mit Vollgas los,
Richtung Stadt.
Trotz des
Navigationsgeräts hatte sie einige Mühe, das Haus in Vanchiglia, einem alten
Viertel am Ufer des Po, zu finden. Nachdem sie ein paar Einbahnstraßen umfahren
hatte, bog sie schließlich in eine enge kleine Gasse ein und fand die
Hausnummer, die sie suchte. Es war eine alte Villa in einem noch ganz ordentlichen
Zustand, umgeben von einem [241] heruntergekommenen Garten mit der
unvermeidlichen, zum Himmel aufragenden Libanonzeder.
Sie
klingelte, und sofort wurde die Tür von einem etwa zehnjährigen Jungen
geöffnet, der einen Rucksack trug und sie prüfend anschaute, dann lächelte und
sie mit einer Geste hineinbat.
»Die
Großmutter erwartet dich da«, sagte er und zeigte auf den Gang hinter sich.
»Die Tür mit dem bunten Glas. – Ich gehe zu Luigi und mache Hausaufgaben,
ciao…«, rief er nach hinten und lief davon.
Amüsiert
schloss Betta die Tür und ging den Gang hinunter.
»Kommen
Sie, treten Sie ein, ich habe Sie schon erwartet«, sagte eine angenehme,
jugendliche Frauenstimme.
Betta
betrat das kleine Wohnzimmer, eingerichtet mit wertvollen Jugendstilmöbeln. Das
Medium saß auf einer Couch, das rechte Bein auf einem Puff ausgestreckt.
»Entschuldigen
Sie, wenn ich nicht aufstehe, ich habe mir gerade gestern einen Knöchel
verstaucht, und der Arzt hat mir die Anweisung gegeben, ein paar Tage nicht zu
gehen«, sagte sie lächelnd und reichte Betta die Hand.
»Ich heiße
Angela. Und Sie sind Signora Elisabetta Malacrida. Nehmen Sie doch bitte
Platz.«
Betta war
verwirrt, nickte und setzte sich. Die Frau war ganz anders, als sie sie sich
vorgestellt hatte. Betta wusste, dass sie um die siebzig war, aber sie sah zehn
Jahre jünger aus. Sie trug sportliche beige Gabardinehosen und einen leichten
blauen Kaschmirpullover, um den Hals eine dünne Perlenkette. Sie war schlank
und wahrscheinlich nicht sehr groß, und ihr weißes Haar hatte sie im Nacken zu
einem [242] lockeren Knoten gebunden. Betta bemerkte, dass sie am Mittelfinger
einen wundervollen, in Gold gefassten Topas trug.
»Was kann
ich für Sie tun?«, fragte sie.
Betta nahm
sich ein paar Augenblicke Zeit, um nachzudenken. Sie war verlegen, doch der
freundliche Blick des Mediums machte ihr Mut. Fast ohne dass es ihr recht
bewusst wurde, begann sie über Lorenzo zu sprechen, über ihre Ehe und ihre
Ängste.
Die Frau
schloss die Augen und hörte still zu. Als Betta schwieg, nahm sie ihren Ring ab
und hielt ihn in den Händen, ohne etwas zu sagen. Nach ein paar Sekunden
öffnete sie die Augen wieder, fixierte einen unbestimmten Punkt im Zimmer und
begann langsam zu sprechen.
Beinahe
hypnotisiert hörte Betta zu, wie Angela einige entscheidende Ereignisse aus
ihrer Kindheit und Jugend aufführte, von denen niemand außer Betta wissen
konnte. Dann beschrieb die Frau mit großer menschlicher Wärme die Eigenschaften
ihres Charakters, die vielen Schwächen und die wenigen Stärken, die ihn
ausmachten. Zum Schluss begann sie über Lorenzo zu
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