Die rote Farbe des Schnees
Außer Joan natürlich. ... Oder hast du
noch jüngere“, fragt er verunsichert.
Sie verneint kopfschüttelnd und
weigert sich, seinen Worten Glauben zu schenken. „D ... das ist nicht wahr.“
Malcom nickt bedächtig. „Eine
Verkettung unglücklicher Umstände“, erklärt er, wobei er ihrem Blick ausweicht.
Es lässt sie den Verdacht schöpfen, dass er ihr noch nicht die ganze Wahrheit
offenbarte. Doch ihre Gedanken werden durch eine aufsteigende Übelkeit
verdrängt. Niedergeschlagen sinkt sie ins Gras.
„Es tut
mir wirklich leid, Junge.“ Einfühlsam legt er ihr eine Hand auf die Schulter.
„Aber du hast wenigstens noch Joan“, versucht er, sie zu trösten, woraufhin sie
unglücklich auflacht und ihn bekümmert ansieht. Ja, wenigstens hat sie noch
sich selbst. So vollkommen alleine fühlte sie sich noch nie zuvor. Sie findet
sich vom Schicksal mächtig betrogen. Ohnmächtig vergräbt sie das bleiche
Gesicht in den Händen. Sie spürt unmerklich, wie ihr Malcom ermutigend über den
Lockenschopf streicht und hört, wie er sich dann entfernt.
Den Verlauf
des nächsten Tages nimmt Joan größtenteils wie durch einen Nebelschleier
hindurch wahr. Ihre Handgriffe erfolgen eher im Unterbewusstsein und man muss
sie oft mehrfach ansprechen, bevor sie reagiert. Malcom lässt sie in Ruhe, was
sie ihm hoch anrechnet. Während des Reitens kann sie unbehelligt ihren Gedanken
nachgehen. Und als die Sonne langsam untergeht, hat sie sich halbwegs gefasst.
Die alte Straße verläuft
entlang eines niedrigen, bewaldeten Bergkammes, wie sie soeben feststellt. Die
Sonne lässt die Wolken am Horizont erglühen. Joan nimmt den Anblick in sich
auf, bevor sie hinter Gerold von der Straße abbiegt.
Sie liegt schlaflos unter ihrer
Wolldecke und erhebt sich schließlich. Planlos schlendert sie umher, bis sie
sich vor der im Halbdunkel liegenden Straße gewahrt. Gleichgültig setzt sie
sich auf die noch sonnenwarmen Steine des Pflasters am Straßenrand. Voller
Schwermut stützt sie die Arme auf den Knien ab und legt den Kopf in ihre Hände.
Ihre linke Wange ist inzwischen abgeschwollen, doch bestimmt herrlich verfärbt.
Die Nacht ist lau und friedlich. Joan blickt nach oben zu den Sternen, die das
Weltenall erleuchten. Die ersten Glühwürmchen mogeln sich darunter. Ganz in
Joans Nähe schwirren noch mehr von ihnen im Buschwerk umher. Sie beobachtet
diese eine Weile, als sie von einem Rascheln neben sich aufschreckt. Es ist
Phil, der sich an ihre Seite setzt. Sie grübelt, was Jack so anziehend für ihn
macht, dass er sich mit einem um so viel jüngeren Knaben abgibt. Vermutlich hat
ihm Malcom bedeutet, er solle sie ein wenig aufmuntern.
„Und? Wie kommst du mit dem
Training voran?“
Joan nickt. Über ihren
trübsinnigen Gedanken hatte sie ihre Wette völlig vergessen. „Leidlich.“
„Was ist eigentlich los mit
dir? Hat dir Malcom so schwer zugesetzt, weil du Nigels Riechkolben platt
gemacht hast?“
Sie glaubt nicht, dass er sich
absichtlich ahnungslos stellt, kommt jedoch nicht umhin, über seine Bemerkung
unweigerlich amüsiert zu schniefen. „Hat sich ja schnell herumgesprochen,
unsere kleine Auseinandersetzung.“
„Nun, Nigels gebrochene Nase
und dein blaues Auge drängen sich einem ja geradezu auf.“ Er blickt sie an. „Du
hast ihn dir gründlich zum Feind gemacht.“
Joan zuckt die Schultern. „Ist
noch mein geringstes Problem.“
Sie schweigen eine Weile.
„Malcom hat mir gestern
beizubringen versucht, dass meine Geschwister allesamt tot sind“, vertraut sie
ihm schließlich an, während sie starr geradeaus ins Leere blickt. Auf sein
Schweigen hin betrachtet sie ihn verstohlen von der Seite.
Phils Gesicht liegt im Dunkeln.
Er nickt. „Tut mir wirklich leid für dich, Jack.“ Er räuspert sich. „Doch was
ist mit deiner schönen Schwester Joan?“
Sie seufzt. „Ja. Die gibt es
noch als einzige. ... Du findest sie schön?“
Phil lacht auf. „Du bist gut.
... Ich sah nie ein schöneres Mädchen.“ Er wiegt den Kopf. „Und fürwahr, ich
sah schon viele, die das gängige Schönheitsideal, welches auch das meine ist,
bedienten. Doch die meisten halfen dabei nach, färbten das Haar blond und
drehten es mit der Brennschere ein. ... Es waren kurzum gekünstelte Gänse. ...
Ganz anders jedoch ist Joan. Sie ist, wie sie ist, ... unverfälscht, holdselig,
vollkommen“, bekundet er schwelgerisch seufzend, was sie an den Rand ihrer
Selbstbeherrschung bringt. Nur mit Mühe unterdrückt sie ein
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