Die rote Halle
Hanno hatte seine
Hütte winterfest gemacht. Das durfte man eigentlich nicht.
Aber Hanno hatte in der Familie die Hosen an.
Der Kirschkuchen war trocken, aber Janina hatte ohnehin
keinen Appetit. Gedankenverloren blickte sie in die Tüte mit dem Gewirr aus
roten Absätzen und Riemen und versuchte, sich Dave in diesen Schuhen
vorzustellen. Die ungleichen und schiefen Absätze würden sämtliche Beinmuskeln
aktivieren. Er würde aussehen wie eine behinderte Tunte. Aber Dave hatte genug
Anmut, um sogar in den Kleidern von Janinas GroÃmutter bestehen zu können. Er
war schöner denn je. Jetzt, wo sein Gesicht nicht mehr so glatt war, die
Bartstoppeln leicht ergraut, die Augen tiefer in den Höhlen lagen. Er sah nicht
mehr so jungenhaft aus, sondern ein bisschen mehr wie ein Mann.
Janina spülte einen Bissen Kuchen mit einem Schluck Kaffee hinunter,
aber er rutschte dennoch schlecht. Ãberdeutlich spürte sie ihren Körper, die
Rollen, die sich von innen an ihr T-Shirt schmiegten, den BH, der im Rücken
einschnitt, den Hosenbund.
Sie wog mindestens zwanzig Kilo mehr als damals. Alles gestaute,
ungenutzte Energie. Aber was hätte sie dagegen tun können, sitzen gelassen zu
werden? Was hätte sie dagegen tun können, dass Dave es nicht ernst mit ihr
gemeint hatte? Und was sollte sie jetzt mit dieser Energie anfangen? Die ganzen
Jahre hatte sie ihr als Schutzschild gedient. Aber der funktionierte nun nicht
mehr. Gegen Daves Gegenwart konnte er nichts ausrichten, er war nur eine
zusätzliche, beschämende Last.
DeeDee richtete die Digitalkamera, die sie sich in einem Geschäft am
Mehringdamm gekauft hatte, auf Janina.
»DeeDee, ich mag das nicht, gefilmt zu werden.«
»Wieso denn, lass mich doch mal ausprobieren.«
Janina setzte sich unbehaglich auf dem kleinen Kaffeehausstühlchen
zurecht. Sie fühlte sich neben DeeDee wie eine Riesin, die den Bildschirm
komplett ausfüllen würde. Ihr Blick flackerte nervös zwischen dem Kameraauge
und dem Friedhofstor gegenüber hin und her. Am liebsten würde sie sich dort
eingraben.
»Ich will nämlich die Proben mitschneiden, damit ich besser an
meinem Part arbeiten kann. Ich muss schlieÃlich auch Dave gerecht werden. Das
ist eine ganz schöne Herausforderung für mich.«
»Mmhhm«, machte Janina und stocherte in ihrem Kuchen, brachte es
aber nicht über sich, vor laufender Kamera einen Bissen davon in den Mund zu
stecken.
»Nicht, dass ich mir Sorgen mache. Ich weiÃ, dass ich gut genug bin.
WeiÃt du, auch nach dem Unfall â ich habe nie aufgehört, Stunden zu nehmen und
zu trainieren.«
DeeDee drückte auf Stopp und sah sich an, was sie gefilmt hatte,
bevor sie Janina den Bildschirm hinhielt, damit sie auch gucken konnte. Es war
schlimmer, als sie gedacht hatte. Viel schlimmer. Die Kamera lieà sie wie einen
Elefanten erscheinen, ihr Kopf wirkte winzig auf dem massigen Oberkörper, und
die Haare lagen fisselig und platt an ihrem Kopf. Janina wollte dagegen ankämpfen,
aber es kam zu plötzlich, sie hatte keine Zeit, sich vorzubereiten, und der
Versuch, über sich selbst zu lachen, endete damit, dass sie sich an ihrem
eigenen Schluchzen verschluckte.
DeeDee legte die Kamera vorsichtig in ihre neue Kameratasche und
schob sie mit dem Fuà unter den Tisch. Dann zog sie ihren Stuhl neben den von
Janina und legte ihr einen Arm um die Schultern. Es fühlte sich an, als müsste
DeeDee sich regelrecht recken, um überhaupt um Janina herumlangen zu können.
Beschämend, vernichtend.
»Was ist denn los, Liebe?«, fragte DeeDee ganz sanft.
1996, Gorki Theater, Kostümabteilung. Jeder hasst die ewige
Bügelarbeit, nur Janina nicht. Sie mag es, wie die aufsteigende Hitze des
Eisens ihr Gesicht wärmt, wie die glatte Fläche über den Stoff gleitet und ihn
makellos zurücklässt.
Aber wahrscheinlich hätte sie jede Arbeit geliebt. Sie ist
glücklich. Sie ist hier. In der Nähe von Dave Warschauer. Sie bügelt mit
Hingabe die aufwendigen Rüschenblusen und Seidenhosen für die Cenerentola -Besetzung, fährt mit einem schmalen Spezialeisen
in die engen Faltenwürfe und widmet sich jedem Stück so lange, bis es perfekt
ist. Danach sind die Risse im Gewebe dran, die beim Tanzen entstehen, die
ausgerupften Haken und Ãsen, bevor sie dann noch einmal abschlieÃend
darüberbügelt.
Das beglückendste Stück hat sie
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