Die roten Blüten der Sehnsucht
zurückgeführt werden. Mir war schon seit Wochen nicht mehr unwohl. Wie würdest du reagieren, wenn du von deiner Familie mit solchen Beschuldigungen konfrontiert würdest?«
Dorothea schüttelte hilflos den Kopf. » Das könnte ich mir gar nicht vorstellen.«
» Und wenn doch?«, insistierte Ian.
» Ich wäre vermutlich über alle Maßen wütend und gekränkt, dass man mir so etwas zutraut.«
Ian nickte. » Genau. Das wäre wohl auch die Reaktion der beiden. Ich an ihrer Stelle würde sofort abreisen. Wenn ich meinem Vater das erste Mal unter die Augen trete, würde ich das gerne tun, ohne meine nächsten Verwandten tödlich beleidigt zu haben.«
Ian hatte völlig recht. Sie waren in einer scheußlichen Situation: Wenn sie versuchten, sie aufzuklären, würde es in einem Desaster enden. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als wachsam zu sein und sich zu geben wie immer.
Das jedoch war gar nicht so einfach. Vor allem, nachdem Dorothea Vicky gebeten hatte, ihr ihren Traum genau zu beschreiben. » Es war kein Traum.« Vicky sah sie ernst an. » Ich weiß, wann ich träume und wann ich wach bin. Und ich war wach, als ich den Dämon gesehen habe.«
» Wo hast du ihn genau gesehen? Kannst du ihn beschreiben?« Dorothea fixierte sie scharf.
» Es war sehr dunkel.« Vicky dachte angestrengt nach. » Ich habe die Tür einen Spaltbreit geöffnet, weil ich etwas gehört hatte. Ein seltsames Geräusch, wie ein Stöhnen. Er war kaum zu bemerken, weil er ganz schwarz war. Er kam aus dem Zimmer der alten Frau und verschwand einfach im Gang.« Das Mädchen erschauerte. » Er hatte keinen Kopf und keine Glieder«, setzte sie leise hinzu. » Er sah wirklich aus wie eine Wolke, die über dem Boden schwebt.«
» Hast du sehen können, wohin er schwebte? Schwebte er vielleicht in ein anderes Zimmer?«
Vicky schüttelte stumm vor Entsetzen den Kopf. » Er war doch satt«, flüsterte sie. » Deshalb hat er das auch wieder ausgespuckt.« Zu Dorotheas Erstaunen holte sie etwas aus ihrer Schürzentasche und präsentierte ihr auf dem Handteller einen zusammengefalteten Zettel von der Größe einer halben Spielkarte.
» Bist du sicher, dass das der Dämon verloren hat?«, fragte Dorothea und griff danach.
» Als ich am Morgen zum Abort ging, hat es genau dort gelegen, wo er geflogen ist«, erklärte Vicky.
Dorothea entfaltete es und las die kurze Botschaft. » Wenn ihr dies lest und ich bin nicht mehr, dann hat C. G. einen Weg gefunden, mich zu beseitigen. Ich habe sie um einen Besuch gebeten, um sie mit gewissen Dingen zu konfrontieren.«
» Hast du ihn irgendjemandem gezeigt?«, fragte Dorothea hastig, und als Vicky verneint hatte, fügte sie hinzu: » Gut. Tu es auch weiterhin nicht. Das ist unser Geheimnis.«
Das kleine Stück Papier schien ein Loch in ihre Tasche zu brennen, während sie sich auf die Suche nach Ian machte. War das nicht der Beweis, dass Lady Chatwick auf unnatürliche Weise gestorben war? Es war ihr ein Rätsel, wie. Am Körper hatte Mrs. Perkins keinerlei Spuren gefunden, und auch die Weinkaraffe hatte noch unberührt auf dem Vertiko gestanden. Man hörte hier und da, jemand sei vor Schreck gestorben, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass das bei der resoluten Lady Arabella der Fall gewesen sein könnte.
» Du wirkst erregt, Cousine«, ertönte eine sanfte Stimme, und Catriona glitt neben sie.
Dorothea zuckte zusammen. In Gedanken verloren, hatte sie überhaupt nicht auf ihre Umgebung geachtet.
» Kann Percy oder ich dir irgendwie behilflich sein?«
Percys schlaksige Gestalt auf ihrer anderen Seite deutete eine elegante Verbeugung an. Dorothea spürte Panik in sich aufsteigen. Was hatten die beiden im Sinn?
» Ach, ich habe mich nur gerade über Trixie geärgert«, log sie und bemühte sich, ihre Nervosität zu unterdrücken. » Habt ihr Ian irgendwo gesehen?«
» Hm, ich glaube mich zu erinnern, dass er etwas von der Nordwestweide sagte. Er wollte dort– wie nannte er es doch noch? Ja, er wollte dort nachschauen, wie weit es mit dem Ablammen ist.«
Natürlich: Die ersten Mutterschafe begannen zu werfen. Aber musste er gerade heute so weit wegreiten? Dorothea unterdrückte den Impuls, Parnko darum zu bitten, ihr Molly zu satteln, ihre alte Stute. Seit Roberts Tod hatte sie sich nicht mehr auf ein Pferd gesetzt. Es war ihr nicht sehr schwergefallen, weil sie dem Reiten ohnehin nichts hatte abgewinnen können. Und Heather hatte ihr stämmiges Pony nur zu gerne gegen die zierliche Araberstute
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