Die roten Blüten der Sehnsucht
Lady Chatwick zeigte deutliche Skepsis, als die Sprache darauf kam. » Bist du sicher, dass du dir das Ganze nicht eingebildet hast? Wenn ich mich recht erinnere, hast du meinen ganzen Brandy-Vorrat verbraucht. Da sieht man schon einmal Dinge, die es gar nicht gibt.«
Dorothea errötete, halb aus Ärger über die Unterstellung, sie wäre so betrunken gewesen, dass sie Halluzinationen gehabt hatte, halb aus Beschämung, dass sie tatsächlich mehr Alkohol zu sich genommen hatte, als es für eine Lady schicklich war. » Ich habe das Kind schon vorher gesehen. Als ich mich im Lager umsah. Ich wollte mit ihm reden, aber eine alte Frau hat es weggerufen.«
Lady Chatwicks Brauen hoben sich zu vollkommenen Bögen. » Tatsächlich, Liebes? Nun, vielleicht wollte sie einfach nicht, dass du mit ihm sprichst. Nicht alle Eingeborenen sind uns freundlich gesonnen. Was ist daran seltsam?«
Dorothea seufzte frustriert auf. Die Aura des Besonderen, die das Kind umgeben hatte, war kaum jemandem zu erklären, der es nicht gesehen hatte. » Es war irgendwie anders. So, als ob sie verhindern wollte, dass jemand von uns das Kind zu Gesicht bekommt.«
» Liebes, das ergibt doch nicht den geringsten Sinn«, wandte Lady Arabella ein. » Wieso sollte sie das tun?«
» Das werde ich schon noch herausbekommen!« Dorothea sah die ältere Frau entschlossen an. » Auch wenn es sonst niemanden hier zu interessieren scheint.«
Lady Chatwick antwortete nicht. Dorothea fiel auf, dass sie in Gedanken ganz woanders zu sein schien. Sie starrte blicklos auf den Teppich vor ihren Füßen. Ihre normalerweise rosigen Wangen waren aschfahl. » Sollte er etwa…?«, flüsterte sie tonlos. » Bei Männern weiß man doch nie. Hmm.– Möglich wäre es.« Sie hob den Kopf und fixierte Dorothea scharf. » Wie alt, sagtest du, schätzt du sie?«
Dorothea starrte sie fassungslos an. Sie brauchte eine Weile, bis sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. » Du willst damit doch nicht andeuten, dass Robert…?«, krächzte sie schließlich verstört.
» Oh, ich dachte nicht an Robert«, murmelte Lady Arabella geistesabwesend.
Dorothea schnappte nach Luft und griff sich an die Kehle, die sich plötzlich schrecklich eng anfühlte. Das vertraute Zimmer schien hin und her zu schwanken. Sie hörte nichts mehr, ein schwarzer Schleier legte sich vor ihr Gesicht– und Dorothea fiel zum ersten Mal in ihrem Leben in Ohnmacht.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf der Chaiselongue ausgestreckt, und eine immer noch sehr blasse Lady Chatwick schwenkte ein abscheulich stinkendes Riechfläschchen vor ihrem Gesicht hin und her.
» O Gott, was habe ich nur angerichtet! Verzeih, Liebes, wie gedankenlos von mir!«, rief sie reumütig, sobald Dorothea die Augen aufschlug. » Eine grässliche Angewohnheit von mir, laut zu denken.« Dorothea musste niesen. Eilig stöpselte Lady Chatwick ihr antiquarisches Riechfläschchen wieder zu und tätschelte ihr unbeholfen die Wange. » Natürlich ist es absoluter Unsinn, was ich gedacht habe. Ian würde nie…« Zur Bekräftigung schüttelte sie so heftig den Kopf, dass ihr fast die Spitzenhaube vom Kopf geflogen wäre. » Ganz sicher nicht!«
Wirklich? Bildete sie es sich nur ein, oder klang es eine Spur zu emphatisch? Fast, als müsse sie sich selbst ebenfalls davon überzeugen, dass es undenkbar wäre. Aber war es das?
Ian war ein ausgesprochen leidenschaftlicher Liebhaber. Nach der schrecklichen Geburt, bei der ihr erstes gemeinsames Kind gestorben war, hatte sie ihn monatelang abgewiesen. Selbst als Dr. Woodforde sie für körperlich wiederhergestellt erklärt hatte, waren seine Berührungen ihr unerträglich gewesen. Vergraben in ihrem eigenen Kummer hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, ob ihm die erzwungene Enthaltsamkeit schwerfiel.
Hatte er sexuelle Erleichterung auf der anderen Flussseite gesucht und gefunden?
Er war viel unterwegs gewesen damals…
Hinter vorgehaltener Hand hatte sie oft genug die Klagen der Damen aus Adelaide gehört, dass lubras, wie man die eingeborenen Frauen nannte, offenbar auf englische Männer einen unwiderstehlichen Reiz ausübten. War auch Ian ihm erlegen?
» Bitte, nimm dir mein dummes Geschwätz nicht so zu Herzen«, bat Lady Arabella zutiefst zerknirscht. » Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Ian zu so etwas imstande wäre?«
Dorothea achtete nicht auf sie. Ihre Gedanken kreisten allein um die Frage: War es möglich? » Ja, natürlich ist es möglich«, ertönte eine hinterhältige
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