Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
Seiten wurde geschossen, und Alexander musste mit ansehen, wie sein Onkel neben ihm von einer Kugel in die Brust getroffen wurde und zusammensackte.
Die Maori waren in der Überzahl. Viele Weiße ergriffen die Flucht, andere ergaben sich. Auch Alexander sank mit erhobenen Händen auf die Knie, das Herz laut pochend vor Angst.
An dieser Stelle wagte Lina es erstmals, ihn zu unterbrechen. »Wieso bist du nicht weggerannt?«
»Das wollte ich ja. Aber dann sah ich, wie sie einen der Fliehenden erschossen. Ich habe geglaubt, jeden Moment trifft auch mich eine Kugel.«
Unter den Maori gab es ein erhitztes Wortgefecht. Alexander konnte zu diesem Zeitpunkt nichts davon verstehen, aber es schien zwei verschiedene Lager zu geben. Ein gemäßigtes, das die Gefangenen verschonen wollte, und eines, das anderer Meinung war. Und offensichtlich gewann die letzte Gruppe. Was dann geschah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren: Die Maori töteten ihre Gefangenen. Einige erschossen sie, andere wurden mit Äxten niedergeschlagen.
Warum sie ausgerechnet Alexander verschonten, wusste er nicht. Vielleicht sahen sie ihn noch nicht als Erwachsenen an. Sie fesselten ihn und nahmen ihn mit. Die ersten Tage nach dem Wairau-Massaker, wie sie es später nennen sollten, verwischten für Alexander zu einem einzigen Albtraum. Er hatte keine Ahnung, was sie mit ihm vorhatten – ob sie ihn doch noch töten würden oder ihn als Sklaven für sich arbeiten lassen wollten. Auch nicht, warum sie ihn schließlich bei einem anderen Stamm zurückließen und verschwanden. Erst später erfuhr er, dass sie die Südinsel aus Furcht vor der Rache der Weißen verlassen hatten.
Nur langsam wich die Angst. Er kannte sich in dem fremden Land nicht aus, sprach die Sprache der Eingeborenen nicht, fühlte sich hilflos und verloren. Er hasste alle Maori. Auch die, die ihn jetzt bei sich aufgenommen hatten. Aber zumindest, das hatte er begriffen, wollten die Menschen dieses Stammes ihn nicht umbringen. Mehr noch: Sie waren sogar freundlich zu ihm. Und allmählich änderte sich seine Einstellung. Einige der Maori sprachen Englisch und freundeten sich mit ihm an. Er lernte ihre Sprache, gewann ihr Vertrauen, begann, ihre Denkweise zu verstehen.
»Was in der Wairau-Ebene passiert ist, war schrecklich«, sagte er, »aber es hätte nicht sein müssen. Die Maori wollten anfangs kein Blutvergießen. Sie hatten diesen Handel nur nie anerkannt, fühlten sich ungerecht behandelt und wollten nun ihre Rechte an ihrem Land klarmachen. Wäre irgendjemand auf die Idee gekommen, ihnen utu zu zahlen, wäre das alles wahrscheinlich nicht passiert.«
»Utu?«, fragte Lina, ein wenig benommen von der Fülle an Informationen, die seit einiger Zeit auf sie einprasselte.
»Das ist eine Art rituelle Zahlung oder Entschädigung«, erklärte Alexander. »Um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Aber das tat niemand.« Er blieb stehen und griff nacheiner Pflanze. Es war ein kleiner, silbriger Farnwedel, der sich gerade erst entrollte. Auch Lina blieb stehen und sah zu, wie seine Finger über den Farn strichen.
»Weißt du«, versuchte er zu erklären, »Land bedeutet für einen Maori etwas anderes als für einen Weißen. Es ist das Land ihrer Ahnen. Es ist ihre Mutter, der die Götter Fruchtbarkeit gaben. Dieses Land kann man erobern, man kann es auch besitzen, aber man kann es nicht kaufen. Nicht so, wie die weißen Siedler sich das vorstellten, die plötzlich durch eine Unterschrift auf einem Stück Papier und etwas Geld über Maori-Land verfügen konnten.«
Lina nickte nachdenklich. So hatte sie das noch nie gesehen.
»Die Menschen werden irgendwann wieder verschwinden. Das Land aber bleibt für immer.«
»Du hörst dich wirklich wie ein Maori an«, gab sie nur halb im Scherz zurück.
Alexander ließ den Farn los und gemeinsam gingen sie weiter. Das Gelände stieg jetzt leicht an.
Schon bald, so erzählte er,durfte er an den Bräuchen und Feiern der Maori teilnehmen. Fühlte sich immer mehr als einer der Ihren. Wurde zu einem pakeha maori.
»Und irgendwann«, sagte er, und diesmal klang Stolz in seiner Stimme mit, »befanden sie mich für würdig, ein moko zu erhalten.«
»Deine Tätowierung?« Lina sah ihn an. »Das hat sicher wehgetan.«
Er zog eine Grimasse. »Ziemlich. Aber man darf es nicht zeigen. Das wäre ein Zeichen von Schwäche. Sie ertragen es alle ohne einen Laut.«
»Du auch?«
Er hob die Schultern. »Na ja. Zuerst dachte ich, das würde ich nie aushalten,
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