Die Rückkehr der Königin - Roman
Orakels von Gul Khaima schlagartig Form und Gestalt annahmen.
Durch ein anderes Paar Augen. Durch ein anderes Zweites Gesicht.
Ein gebrochener Geist soll liegen geöffnet, um ein bitteres Geheimnis zu erkennen . Ja, Rima hatte das Zweite Gesicht gehabt, und Sif hatte sie deshalb gehasst. Aber Feor hatte Recht behalten mit seiner Vermutung, dass Angharas kostbare Gabe nicht allein das Erbe ihrer Mutter war. Auch Dynan hatte die Gabe des Zweiten Gesichts in sich getragen. Und Dynan hatte außer Rimas Tochter ein zweites Kind gezeugt.
Sif, der unversöhnliche Feind des Zweiten Gesichts, hatte ein Seelenfeuer, das mit dem Schein von brüniertem Kupfer in der Dunkelheit des Wahnsinnskampfes dort unten brannte. Ein Seelenfeuer, das ebenso hell war wie das Gold seiner Halbschwester, die von der Festung hinunterblickte, die beide ihr Heim nannten. Ein Seelenfeuer des reinsten und stärksten Zweiten Gesichts.
Als Anghara dies bewusst wurde, stockte ihr der Atem. In ihrem Kopf schwirrten so viele Bilder umher, das ihr schwindlig wurde und sie sich wieder an Miraneis Mauer festhalten musste.
Jetzt ergab alles einen Sinn. Sifs frappierende Macht als Anführer seiner Männer war mehr als nur Charisma; sein grausamer Kampf gegen alle mit dem Zweiten Gesicht in Roisinan entsprang dem unbewussten Wunsch, etwas auszurotten, das in ihm selbst war, wie er tief in seinem Innern spürte. Wahrscheinlich verdankte Anghara ihr Leben der Tatsache, dass er das nicht wusste und seine übernatürliche Energie nicht in die richtigen Kanäle leiten konnte. Er hatte seine Untergebenen ausgeschickt, die jahrelang ergebnislos nach ihr gesucht hatten, obgleich er es selbst leicht hätte erledigen können. Für Anghara wäre alles vorbei gewesen, noch ehe es richtig begonnen hatte. Stattdessen hatte Sif dieses Erbe abgestritten und diese Ablehnung hatte ihn schließlich zu seinem letzten Kampf geführt. Selbst jetzt kämpfte er im Schatten der Festung, in welcher sein eigenes Seelenfeuer begonnen hatte; ein Ort, der Zeuge seiner frühen Erniedrigungen gewesen war und wo er die Krone getragen hatte, die das einzige Vermächtnis seines Vaters war, das anzuerkennen er bereit war.
Angharas erster Instinkt war, ihr Pferd zu rufen und in das Gewühl hinunterzureiten, um ihren Bruder zu suchen. Aber er würde im schlimmsten Getümmel sein, und wenn sie mit diesen Nachrichten vor ihn trat, würde er ihr wahrscheinlich das Schwert in den Leib rammen. Sie bezähmte den selbstmörderischen Impuls, aber ein geheimnisvolles Lächeln umspielte ihre Lippen. Schließlich würde es nicht nötig sein, in Fleisch und Blut vor Sif zu treten – nicht wenn sie seine Gedanken so deutlich und stark vor sich hatte. Gern wäre sie neben ihm gewesen, wenn sie ihn mittels der höheren Sinne berührte, die er mit so grausamer Härte aus den Seelen seines Volkes hatte treiben wollen. Ja, gern hätte sie sein Gesicht in dem Moment gesehen, in dem es ihm klar wurde. Anghara fand es zu berechnend und kalt, wenn sie ihm aus der Entfernung die Augen öffnete, ihm einen solchen Schock versetzte und ihn öffnete für – nur Gott allein weiß was alles –, während sie hier oben in sicherer Entfernung auf die Konsequenzen wartete. Doch waren in ihrem Kopf noch andere Stimmen, Stimmen, die aus menschlicher Qual schrien und dann so schlagartig zum Schweigen gebracht wurden, dass ihr das Mark gefror. Es gab so viel Tod. Es war an der Zeit, dem Einhalt zu gebieten – jetzt – und es lag in ihren Händen, das zu tun.
Jetzt, da sie den kupfrigen Schein von Sifs Seelenfeuer erkannt hatte, ragte er aus den übrigen Kämpfern heraus, als sei er mit einem Zeichen versehen. Anghara fand den Ursprung der kupfernen Flammen und konzentrierte sich darauf. Ihr eigenes Seelenfeuer loderte als strahlende goldene Aura um ihren Kopf und ihre Schultern, sodass jeder, der Bran der Morgenröte anbetete, sie sofort erkannt hätte.
***
Sif hatte diesen Kampf erzwungen. Die Zeit arbeitete gegen ihn, und er konnte sich eine langsame oder gemächliche Lösung nicht leisten. Er kannte Miranei zu gut; viele Verbesserungen in den Verteidigungsanlagen waren sein Werk, und er wusste, dass sie unüberwindlich waren. Jetzt lag seine einzige Chance darin, die Verteidiger hinaus ins offene Gelände zu locken, wo er sie blitzschnell angreifen konnte, weil er nicht Miraneis gewaltige Mauern zwischen sich und dem Feind hatte.
Vielleicht weil er noch immer von den Dämonen seiner düsteren Vorahnungen gepeinigt
Weitere Kostenlose Bücher