Die Rückkehr der Königin - Roman
dachte sie verbittert und lehnte die Stirn an die kalte Steinmauer. Sie kämpfte das Verlangen nieder, mit dem Kopf dagegen zu schlagen. Wieder versuchte sie, das Zweite Gesicht zu rufen, bezahlte aber dafür, indem ihr wieder hundeelend wurde. Diesmal erreichte sie das Loch der Latrine rechtzeitig. Sie beugte sich über die eklige Öffnung und würgte immer wieder, bis nichts mehr übrig war, das herauskommen konnte. Wenn sie jetzt genau nachdachte, war im Essen ein Hauch vom Geschmack der Droge gewesen, aber sie hatte geglaubt, es sei nur eine nachhängende Erinnerung an die Ereignisse zuvor – und selbst wenn sie es erkannt hätte – was hätte sie tun können? Die einzige Wahl für sie bestand darin, entweder das tamman zu erleiden oder aufzuhören zu essen und damit Sif die Mühe zu ersparen, sie zu töten, indem sie sich zu Tode hungerte.
»Ich will leben«, murmelte sie vor sich hin, aber ihre Stimme klang jämmerlich, als sie die tapferen Worte aussprach. Sie wählte nicht das Leben – nicht dieses, nicht hier. Für jemand, der jeden wachen Moment mit einer mächtigen Kraft verbracht hatte, war das Fehlen dieser Kraft eine grausame Folter, was sie jetzt langsam zu begreifen begann. Sie war sich nicht mal sicher, ob die Grausamkeit absichtlich geschah oder aus Achtlosigkeit, lediglich eine Nebenwirkung, die sie daran hinderte, dass sie mithilfe des Zweiten Gesichts entfloh. Und woher wussten sie überhaupt, dass sie das Zweite Gesicht hatte?
Die Antwort kam schnell. Bresse, wo sie nach ihr gesucht hatten und wo sie ohne das Zweite Gesicht nie gewesen wäre. Und Ansen, der sie beinahe versehentlich dorthin geführt hatte – vielleicht hatte er auch Sif dorthin gebracht und einen hohen Preis dafür bezahlt.
Bald schon vermochte sie nicht mehr die Tage zu zählen und gab es auf zu spekulieren, warum Sif so lange brauchte, um sie zu töten. Sie wusste nicht, dass der Herbst in den Winter übergangen und auf den Bergen schon der erste Schnee gefallen war, auch nicht, dass Schneestürme den Schnee mannshoch um Miranei aufgetürmt hatten. Ebenso wenig wusste sie, dass am Morgen ihres siebzehnten Geburtstages Sif sie im Schlaf betrachtete, als ihr helles Haar zerzaust und verfilzt war, und die Knochen an ihrem grazilen Handgelenk wie die eines Vögelchens aussahen.
»Wie lautet Euer Befehl, Mylord?«, hatte der Wärter unterwürfig gefragt.
»Das werde ich zu gegebener Zeit entscheiden«, hatte Sif geantwortet, noch einen letzten Blick auf sie geworfen und war gegangen. Ihm war bewusst, dass er sie schon vor Wochen hätte töten lassen sollen, aber er fand es eigenartig schwierig, dieses Wissen in die Tat umzusetzen. Nichts hatte seine Gefühle für Anghara Kir Hama geändert – sie stand ihm immer noch im Weg und so würde es sein, solange sie atmete, aber ihr Geist schien leichter erträglich, solange er in einem lebenden Körper war, den er beobachten konnte. Sie zu töten, würde diesen Geist freisetzen. Das Ziel war dasselbe wie in Bresse: Ich habe getan, was getan werden musste . Aber Bresse war nicht aus seinen Gedanken verschwunden, nur weil es ihm gelungen war, die Zerstörung rational umzusetzen, und er wusste, dass Anghara ein Geist sein würde, der sehr viel schwieriger zu beseitigen wäre. Selbst als er sie jetzt betrachtete – abgemagert, schmutzig und ungepflegt – war in ihr etwas Königliches, und die Kinnlinie, zwar zweifellos weiblicher und zarter, erinnerte Sif zwangsläufig an den Mann, der sie beide gezeugt hatte. Ich hätte sie lieben können , dachte Sif und war selbst über diese Vorstellung verblüfft. Eine jüngere Schwester ... aber nein, sie ist nicht meine Schwester. Sie könnte mir immer noch den Thron entreißen ...
Die Gedanken ließen seine Lippen zittern. Näher als je zuvor war er daran, sie auszusprechen, aber er sagte nichts. Abrupt wandte er sich ab und ging fort, der mit Juwelen besetzte Schwertknauf blitzte im düsteren Licht der Fackeln. »Sorg nur dafür, dass sie sicher untergebracht bleibt«, sagte er barsch zum Wärter.
»Jawohl, Mylord.«
Und Sif stieg die Treppe hinauf, fort von diesem Ort, und versuchte, alles zu vergessen, aber es gelang ihm nicht. Angharas Name rollte immer wieder in seinen Gedanken umher wie eine Glasmurmel.
Es war nicht das erste Mal gewesen, dass er gekommen war, um seine Gefangene zu sehen – auch nicht das Letzte. Anghara hatte davon keine Ahnung, aber sie zog ihn zu sich, wie eine Wunde unter einem Verband, die ständig juckte,
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