Die Rückkehr der Königin - Roman
Hunger.
Charo war neben ihnen, seine wilden Kriegeraugen waren plötzlich voller Tränen. Anghara erblickte ihn und streckte die Hand aus. Er umklammerte sie mit beiden Händen und war zum ersten Mal sprachlos. Ausnahmsweise blieb es Adamo, dem Schweiger, überlassen, den Kokon der Stille zu brechen, der um Anghara gewoben war – doch wie üblich sagte er alles Wichtige mit den Augen, Teiche der Liebe und der Zuneigung, als er Anghara anschaute. Die Worte, die er schließlich fand, waren vernünftig und praktisch. »Es wird Zeit aufzubrechen«, meinte er. Daraufhin übernahm Kieran wieder das Kommando.
Er blickte umher und sah, wie seine Männer die Überbleibsel der Garde erledigten. Der Rest der Festung war immer noch verdächtig still. Wenn sie eine Chance hatten, die Sache durchzuziehen, dann jetzt. Die Festung konnte jeden Moment erwachen.
»Adamo, trommle sie zusammen«, sagte er leise und schnell. »Zu zweit und zu dritt, wie zuvor. Wir haben noch eine kleine Chance, dass sie die Stadttore öffnen, ehe sie das hier entdecken. Dann strömen Leute in die Stadt, mischt euch unter die Menge. Wenn nötig, lasst eure Waffen zurück – niemand wird uns als Eindringlinge enttarnen, wenn wir ruhig hinausgehen. Charo, hilf mir. Du und ich bleiben bei Anghara. Ich kann dich tragen.« Damit wandte er sich an das Mädchen, das er immer noch mit einem Arm um die Mitte aufrecht hielt. »Aber wir würden weniger auffallen, wenn du gehen könntest. Meinst du, du schaffst das?«
Anghara nickte, doch dann glitten ihre Augen über seine Schulter zur Treppe, die mit Leichen übersät war, und das Bündel mit weizenfarbenem Haar, ausgestreckten Gliedmaßen und dickem Bauch, das Senena war. Es verschlug ihr den Atem. Kieran drehte sich um und sah, was sie sah. Er presste sie ein wenig enger an sich.
»Ich muss zu ihr gehen ...«, stieß Anghara hervor und löste ihre Hand aus Charos Griff. Ihre zerbrechliche Gestalt zeigte erstaunliche Kraft, als sie von Kieran fortging und zur Treppe und der reglosen Senena stolperte. Kieran wechselte mit den anderen Blicke. Auf ein Nicken hin entfernte sich Adamo und sammelte die Männer. Kieran und Charo folgten Anghara.
Das Gewand der kleinen Königin war mit Blut getränkt, und ihre Hände waren im Todeskampf zu Fäusten geballt. Anghara bedeckte ihre Beine mit ihrem eigenen Umhang und nahm die kleinen Hände der Kindkönigin in ihre. Tränen strömten ungehemmt über ihre Wangen. »Sie war sehr freundlich zu mir«, sagte Anghara leise.
Kieran kniete sich neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. Charo beugte sich herab und berührte Senenas Stirn.
»Es ist das Kind«, murmelte Charo leise. »Sie hätte es ohnehin schwer gehabt – sie ist so klein und zart. Sie ist noch am Leben, aber kaum noch. Der Tod wird eine Gnade sein ...«
Senena öffnete trotz der unaussprechlichen Schmerzen mühsam die Augen und starrte in Angharas Gesicht. »Zu gehen ... im Sonnenschein«, flüsterte sie. »Den Himmel ... sehen.«
»Senena ...«
Doch Senenas Augen waren hell, eigenartig triumphierend. »Ich gehöre ihm nicht«, sagte sie und schien schließlich die Motive zu verstehen, die sie dazu gebracht hatten, mit Anghara Freundschaft zu schließen. »Er wird nicht mit einem Sohn aus meinem Körper eine Dynastie begründen ... Komm zurück nach Miranei, Anghara ... Herrsche für mich über Roisinan ...«
Ihre Augen blieben offen, aber ihre Seele war unvermittelt gegangen – sie waren leer, Fenster aus milchigem Glas. Wieder streckte Anghara ihre Sinne aus, nach etwas, an das sie sich erinnerte – etwas, das sie einst getan hatte, als stünde es ihr zu – nach der Gegenwart eines Gottes und der Herrlichkeit seiner Gaben. Aber es war nichts da, nichts außer Leere und scharfen Schmerzen, sodass sie sich über Senenas Leichnam krümmte.
Komm jetzt zu mir, al’Khur! Ich bin eine an’senthar ... ich trage dein Gold ...
Durch einen Schleier der Schmerzen hörte sie noch einmal seine Stimme: Noch jemand, den du vielleicht vor mir retten wolltest, wird zu mir kommen, ehe wir uns wieder treffen ... ich sehe Leiden ...
Und eine andere Stimme, aus viel späteren Jahren, die Stimme des Orakels, welche ihr die rätselhaften Zeilen in Gul Khaima gegeben hatte: Unter einer uralten Krone die Ungeborenen sterben . Die Krone unter dem Berge. Senenas ungeborener Sohn. Und Angharas Hilflosigkeit.
»Ich bin blind«, flüsterte sie. Es war eigenartig, dass sie in der Stunde des Todes von Senena den Mut
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