Die Rückkehr der Templerin
zumindest die Richtung wies. Sie versuchte die Stufen zu zählen, kam aber schon nach einem knappen Dutzend durcheinander und gab es auf. In ihrem Kopf begann eine leise, aber penetrante Stimme zu flüstern, die ihr zu erklären versuchte, was für ein Wahnsinn dieses Unternehmen sei. Sie hatte Mühe gehabt, den Weg aus ihrer Kammer heraus zum Hof zu finden, obwohl sie ihn sich vorher extra eingeprägt hatte, und sie lief mehr als nur Gefahr, sich zu verlaufen. Dennoch beschleunigte sie ihre Schritte nur noch, als sie endlich am Fuß der Treppe angelangt war, wo sie sich in einem niedrigen, von einer heftig rußenden Fackel erhellten Gewölbe wiederfand.
Es gab nur eine einzige Tür, die noch dazu halb offen stand, sodass ihr die Wahl nicht schwer fiel, dahinter schlossen sich eine Art Vorratsraum und eine weitere Treppe an, die in ebenso engen und Schwindel erregenden Windungen wieder nach oben führte wie die, die sie gerade erst herabgestiegen war. Nach einem oder zwei Dutzend Stufen passierte sie ein schmales Fenster, durch das eisiger Wind hereinpfiff, und warf einen flüchtigen Blick hindurch. Die Nacht war so vollkommen schwarz, als hätte der Himmel den Mond und einen Großteil der Sterne verschluckt, aber sie erkannte dennoch, dass sie sich in einem der Türme der Burg befinden musste. Sie zögerte einen kurzen Moment weiterzugehen. Wenn Abbé die Treppe ganz hinaufgegangen war, dann war ihre Verfolgung hiermit zu Ende. Dort oben gab es Wachen, an denen sie sich ganz bestimmt nicht unbemerkt vorbeischleichen konnte.
Aber sie hatte keine Wahl. Ohne auf die immer lauter werdende Stimme ihrer Vernunft zu hören (hätte sie das jemals getan, dann wäre sie jetzt nicht hier, sondern tausend Meilen entfernt in einem kleinen Fischerdorf an der friesischen Küste), setzte sie ihren Weg fort und erreichte nach einer Weile einen Treppenabsatz, von dem aus eine Tür tiefer ins Innere des Turms führte. Sie stand offen. Blassroter Lichtschein fiel auf die Treppe heraus, und Robin glaubte Geräusche zu hören. Stimmen?
Lauschend legte sie das Ohr an den Türspalt. Die Stimmen wurden lauter, leider aber nicht deutlicher. Sie konnte hören, dass es zwei Männer waren, die miteinander redeten - vielleicht stritten -, und ihr Herz schlug noch einmal schneller, als sie nun ganz eindeutig die Stimme Bruder Abbés identifizierte. Ganz egal, wie groß das Risiko auch sein mochte - sie musste einfach weitergehen.
So leise, wie es überhaupt nur möglich war, öffnete sie die Tür gerade weit genug, schlüpfte durch den entstandenen Spalt und sah sich rasch nach rechts und links um. Sie befand sich in einem niedrigen, fensterlosen Gang. Das düsterrote Licht, das sie gesehen hatte, aber auch die Stimmen kamen von links. Zu sehen war niemand. Lautlos näherte sie sich der Abzweigung, blieb einen halben Schritt davor stehen und lauschte mit angehaltenem Atem, während sie sich unendlich behutsam weiter nach vorne schob in dem Versuch, um die Ecke zu spähen.
Ihr Atem stockte endgültig, als sie die beiden Männer sah, die nur wenige Schritte entfernt dastanden. Beide hatten ihre Kapuzen zurückgeschlagen. Einer der Männer wandte ihr den Rücken zu, sodass sie nur seinen dunklen Haarschopf sehen konnte, doch dafür erkannte sie das Gesicht des anderen umso deutlicher.
Es war Bruder Abbé.
Er war älter geworden. Ganz wie auch bei Horace schienen die Jahre, die seit ihrem letzten Treffen vergangen waren, ein Mehrfaches ihrer Last auf seinen Schultern abgeladen zu haben. Sein Gesicht war noch immer rundlich und wollte nicht so recht zu einem Mann passen, der ein Leben in Enthaltsamkeit und Demut zu führen gelobt hatte, aber es wirkte auf eine schwer zu beschreibende Weise zugleich auch ausgezehrt und verhärmt. Die unerschütterliche Fröhlichkeit, die Robin stets in seinen Augen gelesen hatte, war einer neuen Bitterkeit gewichen, die ihr einen kalten Schauer den Rücken hinabrieseln ließ. Darüber hinaus flammten seine Augen im Moment vor Wut. Robin konnte immer noch nicht verstehen, was Abbé und der andere Ritter miteinander redeten, denn sie bedienten sich einer Sprache, die Robin zwar kannte - des Französischen -, deren sie aber nicht mächtig war. Allerdings begriff sie auch so, dass sie Zeuge eines heftigen Streits wurde, und als sie den Namen Rainald de Châtillion herauszuhören glaubte, zuckte sie unwillkürlich zusammen.
Abbé machte eine zornige Handbewegung und drehte sich gleichzeitig halb herum, und Robin
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