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Die Rueckkehr des Henry Smart

Die Rueckkehr des Henry Smart

Titel: Die Rueckkehr des Henry Smart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roddy Doyle
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zufrieden.
    Dann hörte ich das Husten.
    Es kam geradewegs aus meiner Erinnerung, wie ein Dachziegel sauste es auf mich runter, traf meinen Mund, meine Augen, riss mich in Stücke.
    Victor. Mein Bruder und sein letzter Husten. Ich war von dem verhallenden Echo aufgewacht, aber da war er schon tot. Und jetzt hörte ich ihn wieder – einen Husten, der einem durch und durch ging. Auf dem Schulhof war ein sterbendes Kind.
    Der Hof war voll. Sämtliche Jungen unter zwölf aus der Neubausiedlung von Ratheen liefen dort herum, aber ich sah ihn sofort. Unsichtbare Hände hielten ihn an den Schultern aufrecht. Sein Gesicht war weiß und fassungslos. Das Leben strömte aus ihm heraus, das wusste er, aber er wusste nicht warum. Er versuchte den Mund zuzumachen, vergeblich.
    Der Wind zog und zerrte an mir, das scharfe Zeug aus dem Eimer schwappte auf meine Hände und die Risse und Narben eines langen Lebens. Ich stellte den Eimer nicht ab. Ich wollte weitergehen und konnte es nicht. Der Mund des Jungen schloss sich langsam, man sah wieder seine Augen, die Schultern senkten sich. Fürs erste war er okay. Er würde wieder husten. Ich würde eine zweite Chance bekommen.
    Strickland kam mit seiner Glocke. Er sah den kaputten Dachziegel und ging zurück ins Gebäude, in den Gang hinter dem Glas. Ich sah ihn etwas rufen, und seine Lehrer, Jungen vom Land, rannten an ihm vorbei, um die Schüler vom Hof zu scheuchen.
    Jetzt endlich setzte ich mich in Bewegung. Ich ging rüber zu den Klos und schüttete das Desinfektionsmittel aus, der Eimer ging mit, ich konnte ihn nicht halten. Er landete scheppernd an der Wand über den Urinalen. Meine Hand brannte, und ich ließ sie brennen. Das war meine Strafe, aber es war nicht genug.
    Ich stieg aufs Dach und hoffte, der Wind würde mich am Arm packen und in den Hof herunterschleudern, aber da oben wütete er nicht so stark, weil er nicht eingesperrt war. Unten ging Strickland über den leeren Schulhof. Er hatte den Jungen dabei, der stolz und glücklich mit der großen Glocke in der Hand neben ihm her trabte.
    Die Krankheit hieß Schwindsucht, als sie sich Victor schnappte. Jetzt hieß sie TB, war unter Kontrolle und zog sich nach und nach zurück. Es gab Sanatorien und einen gewissen Noel Browne. In dem neuen Irland hustete sich niemand zu Tode.
    Aber ich hatte gehört, was ich gehört hatte.
    Nur der eine Ziegel fehlte. Die anderen saßen bombenfest. Ich stieg vom Dach, das ging leicht, auch mit einem Holzbein. Ich ging die breite Treppe zu Stricklands Büro runter, um ihm die frohe Kunde zu bringen, um mich einzuschleimen und ihn
Gut gemacht
sagen zu hören. Um sicherzugehen, dass er mich nicht hatte daneben stehen sehen, als der arme Kerl seinen zweitletzten Atemzug tat. Das restliche Stück rannte ich fast. Ich wusste, dass ich erbärmlich war.
    Im Lauf meines Lebens war ich alles Mögliche gewesen, von dämlich bis großartig hatte ich alle Phasen durchlaufen, die man sich vorstellen kann, aber als erbärmlich hatte ich mich nie gesehen.
    Als ich vor seinem Büro stand, kam er gerade mit dem Jungen raus. Im Mantel.
    – Ich bringe Seán nach Hause, sagte er.
    Seán war ganz aufgekratzt. Er durfte früher heim und durfte Auto fahren. Seine Lungen gaben Ruhe, er fühlte sich fabelhaft.
    Strickland schloss das Büro ab.
    Danach sah ich mich immer nach Seán um, aber er kam nicht wieder.
    – Der kleine Seán ...
    – Armer Seán, sagte Strickland. – Aber der wird wieder.
    – Wo ist er?
    – In Wicklow, im Sanatorium. Hat ein Zimmer für sich. Seine Mutter, die Gute, kann jeden Sonntag durch die Scheibe zu ihm reinschauen. Sein Vater ist auch da. In einem anderen Zimmer.
    Er klatschte in die Hände. Einmal.
    – Aber Seán, sagte er, – wird wieder.
    Ich glaubte ihm, aber ich war aufgewacht und fing an, Augen und Ohren aufzusperren. Noch immer sah und hörte ich den Fortschritt. Die Wände verkündeten ihn und die Klassenzimmer. Aber ich wusste, dass ich nicht in einem republikanischen Himmel war. Die kranken Lungen wurden nicht am Schultor abgegeben, und Arschlöcher kamen von den Farmen und wurden Lehrer. Jedes Mal, wenn ich über den Hof ging, hörte ich Seán husten, selbst im lautesten Wind. Jedes Mal, wenn ich über einen der Gänge lief.
    Ich erklärte den Krieg. Einen Guerillakrieg, von dem keiner was merkte. Ich hatte immer mein Alibi dabei – den Mopp oder einen Schraubenzieher – und ging auf Patrouille. Leicht und leise streifte ich über die Gänge oben und im Erdgeschoss

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