Die Rückkehr des Sherlock Holmes
Bodensatz im letzten Glas, oder? Ja, ich bin davon überzeugt, daß es so war. Aber wenn ich auf die wahre Erklärung dieses kleinen Phänomens gestoßen bin, erhebt sich der Fall sogleich vom Banalen zum außerordentlich Merkwürdigen, da dies nur bedeuten kann, daß Lady Brackenstall und ihr Mädchen uns vorsätzlich belogen haben, daß man keinem Wort ihrer Geschichte glauben darf, daß sie irgendeinen sehr wichtigen Grund haben, den wahren Verbrecher zu decken, und daß wir den Fall allein und ohne ihre Hilfe konstruieren müssen. Das ist die Aufgabe, die nun vor uns liegt; und dort kommt auch schon der Zug nach Chislehurst, Watson.«
In Abbey Grange war man über unsere Rückkehr sehr überrascht, doch als Sherlock Holmes sah, daß Stanley Hopkins zum Report ins Hauptquartier abgegangen war, nahm er das Speisezimmer in Besitz, verschloß die Tür von innen und widmete sich in den nächsten zwei Stunden einer jener eingehenden und mühseligen Untersuchungen, welche die solide Basis für seine brillanten Schlußfolgerungen bildeten. Ich saß in einer Ecke, einem interessierten Studenten gleich, der die Demonstration seines Professors beobachtet, und verfolgte jeden Schritt dieser bemerkenswerten Suche. Das Fenster, die Vorhänge, der Teppich, der Stuhl, das Seil – alles wurde nacheinander eingehend examiniert und gebührend erwogen. Die Leiche des unglücklichen Barons hatte man entfernt, aber alles andere war noch so, wie wir es am Morgen gesehen hatten. Dann kletterte Holmes zu meiner Überraschung auf den wuchtigen Kaminsims. Hoch über seinem Kopf hingen die wenigen Zoll der roten Schnur, die noch mit dem Draht verbunden waren. Er sah lange Zeit nach oben, dann versuchte er, näher heranzukommen, wozu er sich mit einem Knie auf einem Stützbalken in der Wand abstützte. Auf diese Weise kam er mit einer Hand bis auf wenige Zoll an das abgerissene Ende der Schnur heran; doch schien nicht so sehr dies als vielmehr der Balken selbst seine Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. Schließlich sprang er mit einem befriedigten Ausruf wieder herunter.
»Es ist alles in Ordnung, Watson«, sagte er. »Unser Fall ist gelöst – einer der merkwürdigsten in unserer Sammlung. Aber du liebe Zeit, wie schwer von Begriff bin ich gewesen, und wie knapp habe ich den gröbsten Schnitzer meines Lebens vermieden! Nun, ich denke, bis auf ein paar noch fehlende Glieder ist meine Kette so gut wie vollständig.«
»Sie haben die Männer?«
»Den Mann, Watson, den Mann. Nur einer, aber der ist ganz ungeheuer. Stark wie ein Löwe – davon zeugt der Hieb, der diesen Schürhaken verbogen hat. Sechs Fuß drei Zoll groß, flink wie ein Wiesel, fingerfertig; und nicht zuletzt bemerkenswert scharfsinnig, denn diese ganze geniale Geschichte ist seine Erfindung. Ja, Watson, wir sind dem Werk eines ganz außergewöhnlichen Individuums auf die Spur gekommen. Und doch hat er uns mit dieser Glockenschnur einen Hinweis gegeben, der uns keinen Zweifel hätte lassen dürfen.«
»Was für einen Hinweis?«
»Nun, wenn Sie eine Glockenschnur abreißen sollten, Watson, was meinen Sie, an welcher Stelle sie reißen würde? Doch wohl da, wo sie an dem Draht befestigt ist. Wieso sollte sie drei Zoll unterhalb reißen, wie es bei dieser geschehen ist?«
»Weil sie dort durchgescheuert war?«
»Ganz richtig. Dieses Ende, das wir untersuchen können, ist ausgefranst. Er war schlau genug, dies mit seinem Messer zu bewerkstelligen. Aber das andere Ende ist nicht ausgefranst. Von hier unten können Sie das nicht feststellen, aber vom Kaminsims aus würden Sie sehen, daß es glatt und ohne eine Spur von Fransen abgeschnitten ist. Sie können rekonstruieren, was geschehen ist. Der Mann brauchte das Seil. Herunterreißen wollte er es nicht, da er fürchtete, durch das Läuten der Glocke Alarm zu schlagen. Was tat er also? Er sprang auf den Kaminsims, kam nicht ganz heran, stützte sein Knie auf den Balken – man kann den Abdruck im Staub erkennen – und machte sich mit seinem Messer an die Schnur. Ich selbst bin höchstens bis auf drei Zoll an die Stelle herangekommen, woraus ich schließe, daß er mindestens drei Zoll größer ist als ich. Betrachten Sie diesen Fleck auf dem Sitz des Eichenstuhls! Was ist das?«
»Blut.«
»Ohne Zweifel ist das Blut. Schon das allein macht die Geschichte der Lady indiskutabel. Wenn sie zum Zeitpunkt des Verbrechens auf dem Stuhl gesessen hätte: Wie kommt dann dieser Fleck dorthin? Nein, nein; sie wurde erst
nach
dem
Weitere Kostenlose Bücher