Die Rückkehr des Sherlock Holmes
Ich verstand das Argument dieses kräftigen, zurückhaltenden Griffs durchaus – dies sei nicht unsere Sache; die Gerechtigkeit habe einen Schurken ereilt; wir hätten unsere eigenen Pflichten und Ziele, die wir nicht aus den Augen verlieren dürften. Aber kaum war die Frau aus dem Zimmer gestürzt, als Holmes auch schon mit raschen, leisen Schritten zur anderen Tür gehuscht war. Er drehte den Schlüssel im Schloß. Im selben Augenblick hörten wir im Haus Stimmen und das Geräusch heraneilender Schritte. Die Revolverschüsse hatten das ganze Haus geweckt. Holmes glitt vollkommen kalt zum Safe hinüber, packte beide Arme mit Briefbündeln voll und warf sie alle ins Feuer. Dies tat er wieder und immer wieder, bis der Safe leer war. Jemand rüttelte an der Klinke und schlug von außen an die Tür. Holmes blickte sich schnell um. Der Brief, der Milvertons Todesbote gewesen war, lag blutverschmiert auf dem Tisch. Holmes warf ihn zu den lodernden Papieren. Dann zog er den Schlüssel aus der Außentür, eilte nach mir hindurch und verschloß sie von draußen. »Hier entlang, Watson«, sagte er; »in dieser Richtung kommen wir über die Gartenmauer.«
Ich hätte nicht geglaubt, daß ein Alarm sich so schnell ausbreiten könnte. Als ich mich umsah, war das riesige Haus ein einziges Lichtermeer. Der Vordereingang stand offen, und einige Gestalten rannten die Einfahrt hoch. Der ganze Garten wimmelte von Leuten, und ein Bursche erhob ein Hallo-Geschrei 22 , als wir von der Veranda kamen, und folgte uns dicht auf den Fersen. Holmes schien das Grundstück vollkommen zu kennen, und er schlängelte sich rasch durch eine Anpflanzung junger Bäume, ich dicht hinter ihm, und unser vorderster Verfolger dahinter. Die Mauer, die uns den Weg versperrte, war sechs Fuß hoch, aber er sprang hinauf und hinüber. Als ich es ihm nachtat, spürte ich die Hand des Mannes hinter mir nach meinem Knöchel greifen; aber ich trat mich frei und warf mich auf die mit Glasscherben bespickte Mauerkante. Dann fiel ich kopfüber in ein Gebüsch; aber Holmes stellte mich augenblicklich auf die Füße, und wir rannten zusammen über die riesige Fläche der Hampstead Heath davon. Wir waren schätzungsweise zwei Meilen gelaufen, ehe Holmes endlich stehenblieb und gespannt lauschte. Hinter uns war alles vollkommen still. Wir hatten unsere Verfolger abgeschüttelt und waren in Sicherheit.
Am Tag nach dem soeben von mir berichteten Ereignis hatten wir gerade gefrühstückt und rauchten nun unsere Morgenpfeife, als Mr. Lestrade von Scotland Yard sehr feierlich und eindrucksvoll in unser bescheidenes Wohnzimmer geführt wurde.
»Guten Morgen, Mr. Holmes«, sagte er, »guten Morgen. Darf ich fragen, ob Sie zur Zeit sehr beschäftigt sind?«
»Nicht zu beschäftigt, um Ihnen zuhören zu können.«
»Ich dachte, falls Sie gerade nichts Besonderes zu tun haben, hätten Sie vielleicht Lust, mir bei einem höchst merkwürdigen Fall behilflich zu sein, der sich gestern nacht in Hampstead ereignet hat.«
»Du liebe Zeit!« sagte Holmes. »Was ist denn passiert?«
»Ein Mord – ein äußerst dramatischer und merkwürdiger Mord. Ich weiß, wie viel Ihnen an derlei liegt, und Sie würden mir einen großen Gefallen erweisen, wenn Sie mit mir zu den Appledore Towers kämen und uns mit Ihrem Rat zur Seite stünden. Es handelt sich um kein gewöhnliches Verbrechen. Wir beobachten diesen Mr. Milverton schon seit einiger Zeit, und, unter uns, er war schon ein kleiner Schuft. Man weiß, daß er Schriftstücke besaß, mit denen er Erpressung betrieb. Diese Papiere sind von den Mördern allesamt verbrannt worden. Gegenstände von Wert wurden nicht entwendet, wodurch es denn wahrscheinlich ist, daß es sich bei den Verbrechern um Männer in guter Position handelt, deren einziges Motiv es war, ihre gesellschaftliche Bloßstellung zu verhindern.«
»Verbrecher!« rief Holmes. »In der Mehrzahl!«
»Ja, es waren zwei. Sie wurden praktisch auf frischer Tat ertappt. Wir haben ihre Fußabdrücke und ihre Beschreibung. Es steht zehn zu eins, daß wir sie ausfindig machen werden. Der erste Kerl war ein bißchen zu wendig, aber der zweite wurde vom Hilfsgärtner geschnappt und entkam erst nach einem Handgemenge. Er war mittelgroß, von kräftiger Statur – eckiges Kinn, Stiernacken, Schnauzbart, eine Maske vor den Augen.«
»Reichlich vage«, sagte Sherlock Holmes. »Könnte glatt eine Beschreibung von Watson sein!«
»Tatsächlich«, sagte der Inspektor ziemlich amüsiert.
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