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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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das Haar musste ja erst noch gebrauchsfertig gemacht werden, eine Arbeit, die kein Europäer ausführen würde. Die äußerste Schicht wurde mittels Säurebehandlung abgeschuppt. »Kaum ein Mädchen, das nicht hustet, während es im Staubwirbel von Millionen von Schuppen für ein Butterbrot die Finger verkrampft!«
    China, Indien – Nunzio warf mit exotischen Ländern und unhaltbaren Arbeitsbedingungen um sich, und Emma musste wohl oder übel zuhören. Sie wusste nicht, wohin mit ihrem Blick, und so schaute sie einfach auf ihre Hände. Lang und schmal, perfekte Frauenhände, perfekte Knüpfhände.Schön wie ihre Füße auch. Überhaupt das Schönste an ihr.
    »Am schwierigsten aber ist die Behandlung von ausgekämmtem Haar. Über ganz Indien verteilt sammeln Millionen von Inderinnen die einzelnen Haare, die sie beim Kämmen verlieren, ein. Regelmäßig kommt ein Händler vorbei, dem sie diese Haare für ein Scherflein überlassen.«
    Dieses ausgekämmte Haar unterschied sich aber von den in den Tempeln abgeschnittenen Zöpfen, es war ungeordnet und drohte bei der Weiterverarbeitung zu verfilzen, wenn man die einzelnen Haare nicht in gleicher Richtung aufhängte. Oben musste oben sein und unten unten. Sonst wäre alle Arbeit umsonst und der Ruf eines Händlers dahin. Und damit die Existenz vieler. Diese undankbare Arbeit des Haaresortierens nach Dicke, Länge und Richtung übernahmen die Ärmsten der Armen, sie sortierten tage- und nächtelang fürs Überleben.
    Aber warum indisches Haar, wollte Nunzio von Emma wissen und kam ihr dabei fast wie ein Lehrer vor. »Paradox, der tägliche Wahnsinn!«, rief er aus. Und Emma dachte: sein täglicher Wahnsinn. Der ihn letztlich dazu trieb, immer wieder neu in die Welt aufzubrechen und schauderhafte Zusammenhänge ans strahlende Licht der hehren Schweizer Sonne zu zerren. »Weil es im Gegensatz zum Schweizer Haar noch gesund ist! Inderinnen und Inder haben, im Gegensatz zu den meisten Frauen der westlichen Welt, intaktes Haar! Gesund im Kern. Und gesund bis in die Spitzen!«
    Fern jeder chemischen Behandlung, die die Haare westlicher Frauen je nach Modetrend malträtierte, war indisches Haar, das schon von Natur aus dicker war, in seinen Bestandteilen unangetastet und rein. Beste Basis für Haarteile also, Verlängerungen und Perücken aller Art. Heißbegehrt in den Frisiersalons von Zürich bis Genf. Rohstoff fürBühnenarbeiterinnen, die daraus groteske Gebilde fertigten. Geweihtes Haar mit einem weiten Weg von Indien bis an die Theaterplätze der kapitalistischen Welt, die von Damen der Gesellschaft frequentiert wurden, welche ihrerseits ihre haarige Pracht von Friseuren garnieren und reichlich schmücken, färben, brennen, drehen und toupieren ließen, um nur ja immer eine Idee schöner zu sein als eine andere.
     
    Einmal mehr gelang es Nunzio, seine Reportage zu einem Honorarsatz zu verkaufen, den er festgelegt hatte. Er rief dazu die Zeitungen an, denen er seine Geschichte anbieten wollte, und nannte zugleich den Preis, zu welchem er sie hergeben würde. So einfach ist das Leben für ihn, dachte Emma. So einfach und erklärbar. Eins und eins gleich zwei, Fleiß und Arbeit bringen Erfolg – bei ihm ging diese Kalkulation immer auf. Hier stand er, Nunzio Amadeo, der Bote, der gottliebende Verkünder, und ließ seine Erkenntnisse erfolgsgewohnt auf dem Lochstreifen durch den Telex bis in alle Welt laufen.
    Nur eine Limbaholztüre weiter vergoss Abel zornige Tränen inmitten wilder Haufen von zurückgesandten, weil defekten Trimmdichstangen.

abschwören
    Zürich, 1968
    Wiederum vollkommen fassungslos über das, was das Leben da mit ihr veranstaltete, schaute Emma auf den kleinen dunkel behaarten Kopf eines Säuglings. Sie lag auf der Wochenstation der Zürcher Hirslanden Klinik und hatte vor wenigen Stunden ein Kind geboren. Wieder ein Mädchen. Mit zweiundzwanzig zum zweiten Mal Mutter geworden. Dabei schliefen Nunzio und sie ja kaum miteinander. Ihre Leben waren pure Gegensätze, die sich nicht mehr als ergänzten, ihre Gewohnheiten fügten sich wie zwei einzelne Teile fast hermetisch aneinander und ließen doch nur wenige Begegnungspunkte: Der eine lebte am Tag, die andere des Nachts, der eine enthüllte, die andere maskierte, der eine spielte auf dem öffentlichen Parkett, die andere flocht Zöpfe hinter schweren Vorhängen.
    Sie hatten sich geeinigt, bei der allgemeinen Sexhysterie nicht mitzumachen. Pille hin oder her, so viel Sex braucht doch kein Mensch. Emma

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