Die Ruhelosen
Gedanken über das ganze Land und bis ans Meer, viele Teile der Weltkarte waren doch nichts weiter als weiße Flecken, was konnte man da nicht noch alles erfahren! Ja: erleben! Und wie recht Alžbeta doch hatte, das Leben war zum Leben da und nicht nur zum Erdulden! Schließlich hatten ja auch seine Vorfahren weite Wege zurückgelegt, bis sie an den Ufern des Hornád angelangt und hier fast so etwas wie heimisch geworden waren. Wenn er, nein, wenn sie zwei es tatsächlich wagen sollten, fortzugehen, dann würde er diese ganzen Hügel, Ebenen und Wälder und Felder, die Karpaten und die Tatra, die Schiefer- und die Tondächer und die gelben und grünen und weißen Blumenwiesen vielleicht niemehr wiedersehen. Bestimmt nie mehr wiedersehen. Nun, dachte er, als er sich erhob, immerhin plante man jetzt ja schon eine Bahnlinie von Budapest via Miskolc nach Kassa hinauf; Europa, die Welt, entwickelte sich und rückte zusammen.
Zu Fuß war es ein ganzes Stück des Weges zum Friedhof vor der Stadt. František beeilte sich nicht, es war ihm so, als ob er alles, was seine Augen erblickten, nun zum letzten Male sehen würde. Er begrüßte jedes Ding und nahm zugleich Abschied davon. Die beiden Tauben gingen ihm nicht mehr aus dem Sinn: Wieso nicht einmal versuchen, zwei präparierte schnäbelnde Täubchen einer Dame ins Haar zu stecken? Fast schon erwachte in ihm die alte Schöpferlust. Die Sonne war gütig und der Wind ein Freund. Die Ruhe, die auf dem Friedhof herrschte, würde ihm die nötige Gelassenheit geben. Und mit der Gelassenheit, das wusste er, käme Kraft.
Eidechsen wuselten auf den Grabplatten umher, eine Kreuzotter verschwand rasch im Gras. Der Friedhof war an einem Waldhang angelegt. Ein magyarischer Friedhofswärter mit seinem großen Deutschen Hütehund bewachte die Anlage, in der er zweimal täglich seine Runden drehte. Geklaut war aber schon lange nichts mehr worden, auch die Ruhebänkchen, die sich alle paar Schritte fanden, waren heil geblieben, alles angenehm und gepflegt und fast einladend an diesem kostbaren freien Tag im Leben des František Schön.
Der Wind rauschte voller Versprechungen in den hohen Baumwipfeln, und weiße Wolken hingen über dem Wald, als er schließlich das Grab seiner Eltern erreichte. Ein Schmetterling saß auf dem Grabstein, zitterte mit den Flügeln und flog dann davon. František fühlte sich beseelt.
Er legte ein paar Kiesel, die er unterwegs aufgelesen hatte, auf die Grabsteine seiner Eltern, dann versank er in stumme Monologe.
Als er nach zwei Tagen wieder ins Schloss zurückmarschierte, wusste er sich noch immer keinen Rat. Wäre er nur ein reicher Kassaer gewesen, die Frage hätte sich ihm nicht gestellt. Aber er war, wer er war. Und das konnte doch nie gut genug sein für eine Alžbeta Csöke.
das Seismoskop
Livorno, 1859
Von ihrem spöttischen Trotz angestachelt, hatte Costanza die Türe fortan einen Spaltbreit für Lazzaro offen gelassen, sie wusste auch nicht, was sie dazu trieb, am ehesten noch das Gefühl des Triumphes, wenn ihr Mann, der Zwerg, mit seiner Kraft den Zenit erreicht hatte und nach einem jeweils immer gleich kurzen, immer gleich heftigen kleinen Schrei auf ihr zusammensackte und erschlaffte. Die gespannten Sehnen seiner Oberarme, die sie, hätte sie es gewollt, mit Ringfinger und Daumen leicht hätte umfassen können, wurden dann zu toten Schlangen, die zuckenden kurzen Beine, die so unangenehm gegen ihre Knie geschlagen hatten, gaben Ruhe, und es dauerte nur noch einen Moment, bis er sich tonlos erhob und ihr Bett, ihr Zimmer, sie, verließ.
Sein Streicheln über ihre Stirn nahm sie verbissen zur Kenntnis. Es war dies der einzige Moment, diese knappe Zärtlichkeit des Abschieds, der in ihr etwas zum Beben brachte. Ansonsten blieb sie Herrin der Lage, ansonsten blieb sie kalt.
Lazzaro hing eine unvernünftige Zeitlang noch der Idee nach, er könnte seine Frau mit Hilfe seines Einfühlungsvermögens erreichen, er spürte sehr genau, dass seine zwei Finger, die er regelmäßig zum Abschied über ihre Stirn gleiten ließ, wie Wasser waren, die den Stein vielleicht, ja, doch mit Sicherheit, zu höhlen vermöchten. Würde er nur lange genug aushalten, würde sie nur ein bisschen nachgeben. Würde es sein Schicksal nur für ihn bereithalten wollen,dieses eine ersehnte Glück. Er verweigerte sich seinen eigenen enttäuschten Gefühlen, die ihm da schon untrüglich das Nein entgegenhielten, er verweigerte sich der Ahnung, dass er über kurz oder lang
Weitere Kostenlose Bücher