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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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eigenen Gedanken nach durch die Gassen. Aus dem Alžbety-Dom purzelten Familiendolden auf die Straße, die alten Frauen mit ihren Kopftüchern, die jungen herausgeputzt mit hohen Hüten, die Männer ausstaffiert mit geblümter Weste unter dem Gehrock, Zylinder und Stock, hakten sich beieinander unter, sprachen im Plauderton und fanden allmählich in diesen Tag. Mit einer leicht befremdeten Ehrfurcht schaute er an diesem Monument der Hochgotik empor, das Filigran erstaunte ihn immer wieder, die Türme und Türmchen stachen scharf in den blauen Himmel und zeigten unerschütterlich, wo Gott hockte. Nachdenklich umrundete František das fünfschiffige Bauwerk, das der ungarischen Schutzpatronin, der heiligen Elisabeth, gewidmet war. Trotz Bränden und Erdbeben stand der Alžbety-Dom unverrückbar und gewichtig seit seiner Grundsteinlegung. František fragte sich, was die Menschen heute zu feiern hatten.
    Bereits ein, zwei Gassen weiter hörte man nicht einmal mehr das Echo der klappernden Damenschuhe. František fühlte sich mit einem Male unsichtbar und wie von einer Tarnkappe der Nichtzugehörigkeit geschützt; er betrachtete zärtlich Verliebte, wie sie sich im Schutze eines Maulbeerbaumes verstohlen küssten. Ein Paar zu sein schien ihm in diesem Moment das höchste Ziel, zugehörig zu sein, selbst die Stadttauben waren samt und sonders nur zu zweien unterwegs.Er ging allein. In Pastell gehaltene Greife, geflügelte Löwen, Drachen, Lindwürmer, Ornamente, ausgemalte Fresken, Medaillons und phantasievolle Karyatiden starrten ihm von den Brüstungen, Balkonen, Arkaden und Fassaden entgegen. Was František Schön an jedem anderen Tag künstlerische Inspiration für gewagte Postichekreationen gewesen wäre, war ihm heute nichts als wehmutsvolle Sicht wie bei einer Verabschiedung auf Nimmerwiedersehen. Jeder Blick war von einer Endgültigkeit eingefasst, die ihm das Schauen erschwerte.
    Vom Alžbety-Dom her schlug der Klöppel an die Glocke, Klang für Klang ein weiterer Beweis Kassaer Glockenkunst – ein weiterer irreversibler Verlust. Vor dem Stadttheater standen ein paar Männer, die Hände in den Taschen oder auf einen Stock gestützt, den Hut in die Stirn gedrückt, um dem sanften Wind, der vom hohen Hügel herunterwehte, kein leichtes Spiel zu gewähren. Sie schwätzten, sie hörten einander zu, sie schauten sich um, sie waren ganz einfach da in einer Art und einer Form, wie es František Schön von seinem eigenen Dasein her nicht kannte. Diese Unbescholtenheit, diese Sicherheit, diese Rechtmäßigkeit.
    Von den Hinterhöfen schlängelte sich Essensduft in die Straßen, die Arbeiterfamilien erholten sich von der Woche Werk. Durch Schlitze wurden Briefschaften in die hohen Holztüren eingelassen, bestimmt, so war František an diesem Tag überzeugt, schmachtende Liebesnachrichten. Eine Festtagsgesellschaft feierte unter den hohen Platanen, den Birken und den Eiben. Sie hatten orientalische Teppiche auf der Wiese ausgebreitet und lachten ohne Scham. Er wagte sich etwas näher heran und setzte sich dann auf einen kahlen Stein. Leicht vorgebeugt stützte er sich auf seine Knie, ließ die Tauben kommen, um ihnen zuzuschauen, und hatte überhaupt nichts zum Füttern dabei. Nichts, gar nichts, ging es ihm durch den Kopf. Eine schwarze mit einer einzigenweißen Feder im Schwanz tänzelte vor ihm her, plusterte das Gefieder und flog dann auf zu ihrem weißen Pendant in der Platane.
    Es war nicht von der Hand zu weisen, er fühlte sich furchtbar allein. Mit seiner verbotenen Liebe zu einer Kassaer Aristokratin hatte er sich nicht gerade einen Gefallen getan, was die Gründung eines eigenen Hausstandes betraf. Es war ja völlig undenkbar, dass er als einfacher Posticheur und Jude eine angemessene Partie für Gräfin Csökes Jüngste sein könnte. Nie und nimmer, dieser Tag müsste erst noch erfunden werden. Aber dann hatte Alžbeta etwas zu ihm gesagt, das ihm noch immer in den Ohren hallte, wie eine Kassaer Glocke, die einfach nicht aufhören wollte zu bimmeln. Sie hatte zu ihm gesagt: »Wir wollen unseren Kindern gegenüber doch einmal zugeben können, dass sich unser Leben gelohnt hat. Wir wollen es doch lieber leben, als es nur erdulden.«
    Das hatte ihn berührt, das gab keine Ruhe, das ließ ihn taubengleich davonfliegen mit seinen Gedanken, fort aus Kassa und über die Hügel und Wiesen von Oberungarn hinweg, die wie aufgeworfene Tischtücher kurz vor dem Glattziehen unter ihm lagen, und er flog, flog weiter in seinen

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