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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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Seismoskop versagte einmal mehr.
    Und das ausgerechnet da, wo es ihm am wichtigsten war.

Verlust
    Kassa, 1859
    »Aber er ist Jude!«
    »Sind wir das nicht alle irgendwie ein bisschen, Mutter?«
    »Alžbeta!«
    »Wenn man weit genug zurückschaut, stammen doch die meisten Menschen von den Juden ab.«
    »Du liest zu viele Bücher!«
    »Gerade in der Literatur! Heinrich Heine oder …«
    »Schweig! Du bringst Schande über unser Haus!« Ihre Mutter kreischte. Und sie kreischte für zwei, das stand ihr zu als Strohwitwe.
    Einst war Viera Csöke froh gewesen um ihren Mann, aber heute war er ihr nur noch eine Last. Interesselos an allen Familienbelangen, verbrachte dieser Naturschwärmer die meiste Zeit auf der Jagd, auf anderen Schlössern oder Ländereien oder sogar in weit entfernten Gegenden auf wahnwitziger Schmetterlingspirsch. Sie wusste, sie hatte mit dieser Sache allein fertig zu werden; manchmal zweifelte sie sogar an seinem Verstand.
    Wieder allein in ihrem Zimmer – Alžbeta hatte ihr Gemach verlassen, nicht ohne die schwere Eichentür wuchtig ins Schloss fallenzulassen, wo der Nachhall noch immer brummte –, setzte sich die Gräfin erschöpft auf ihren Frisierstuhl. So weit war es also mit ihrer Familie gekommen. Der eigene Mann auf unbestimmt verreist, die ersten sechs Töchter in andere Herrschaftshäuser verheiratet, und zurück blieb nur sie, sie allein mit dieser aufmüpfigen und jetzt schandbaren Alžbeta. Wie konnte eine Frau ihres Alters,und eine Frau war sie jetzt ja unbestritten, so schrecklich unbedacht handeln? Sich mit einem Posticheur einlassen … ihrem Posticheur.
    Sie betrachtete sich müde im dreiteiligen Spiegel, dann hob sie die Perücke vom Kopf. Wo waren nur die jungen Jahre geblieben? Wo die Kultur, der Anstand, das, was man doch hätte bewahren wollen, bewahren sollen? Unter ihren Augen hatten sich hässliche Krähenfüße eingekratzt. Die von papierner Haut tapezierten Wangen hingen ihr schlaff im Gesicht herunter, der schmale Mund ein beinahe unsichtbarer Strich. Mit den Jahren des Erduldens und Erdauerns waren ihr die Lippen irgendwie abhandengekommen, wie Attribute, die niemand mehr brauchte, auf sie hörte ja doch niemand. Ob ihre anderen Töchter glücklich waren? Zufrieden zumindest? Wohl versorgt. Aber was Alžbeta da anzettelte in ihrer Inkonsequenz und Selbstverliebtheit, konnte ja nur in einer Tragödie enden. Man würde den Posticheur vom Hofe jagen müssen. Definitiv.
    Und was würde dann aus ihr? Ihre dürren Schnakenärmchen bewegten sich kantig nach oben, eine schmale Hand kam wie vom Himmel gefallen und betastete mit knochigen Fingern die kahlen Stellen. Die Gräfin seufzte. Sie hatte immer geahnt, dass ihr dieses Kind einmal Unglück bringen würde. Sechs Kinder gebar sie, ohne zu jammern, einzig dieses letzte eine hatte sie an den Talgrund ihres Verstandes gebracht. Der Arzt war genauso davon überzeugt gewesen, dass sie diese Geburt nicht überleben würde, wie sie selbst. Das Kind war irgendwie verdreht in ihrem Bauch gelegen und hatte gestrampelt und sich gewehrt mit beiden Beinen. So, als hätte sie es sich anders überlegt unterwegs und nun noch etwas länger in ihrer Mutter Wasserbett verbleiben wollen. Und auch ihre ganze Kindheit über hatte Alžbeta dieses Schloss in Aufruhr versetzt, die Kinderfrau hatte mehrmals um Erbarmen gebeten – ach, man hätte Alžbetaweit weg zu einer Ziehfrau geben sollen –, wenn sie sie wieder einmal die Treppen auf und ab jagen musste.
    Alžbeta war so ganz anders als sie, wie nicht von ihrem Blute. Vielleicht war das ja deshalb passiert. Vielleicht hatte ihr irgendein böser Geist dieses Kind unter die Brust gelegt, vielleicht war es eine Strafe dafür, dass sie so unbedingt einen männlichen Nachkommen haben wollten.
    Sie, Viera, hatte ihr Leben doch stets konform und etwa nicht auch anspruchslos gelebt. Ach, was war sie doch für eine hübsche Braut gewesen damals! Nicht von der aufdringlichen Art, wie sie die Bräute mit ihren reizbetonenden Korsagen heutzutage so gerne zur Schau trugen, nein, von einer ganz natürlich reizvollen, weil zurückhaltenden Art, aber wissend, wissend um den kostbaren Dienst, den sie ihren Eltern mit dieser Heirat erwies. Geld zu Geld, und du wirst nie um etwas bitten müssen. Und jetzt war Alžbeta im Begriff, das alles von sich zu werfen. Fortzuschleudern ihr Glück.
    Mein Gott, mein Gott. Grundgütiger.
     
    Vor ihren feuchten Augen trat plötzlich eine Spiegelung auf, sie sah sich

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