Die Ruinen von Gorlan
normaler Mensch laufen konnte.
Einmal machte er den Fehler, nach unten zu sehen. Obwohl er schwindelfrei war, wurde ihm doch mulmig zumute, als er sah, wie weit er gekommen war und wie weit weg unter ihm die harten Pflastersteine des Burghofs waren. Der Wachposten kam nun wieder in Sicht – aus dieser Höhe eine winzige Gestalt. Will blinzelte das Schwindelgefühl weg und kletterte weiter, jetzt vielleicht etwas langsamer und vorsichtiger als vorher.
Es gab einen Moment, in dem ihm fast das Herz stehen blieb – als er seinen rechten Fuß zu einem neuen Vorsprung ausstreckte, sein linker Fuß an dem glatten Steinblock abrutschte und er nur noch an seinen Händen hing, während er verzweifelt nach einem Vorsprung für seine Füße suchte. Dann fand er Halt und kletterte weiter.
Erleichtert atmete er auf, als seine Finger sich schließlich um den steinernen Fenstersims schlossen und er sich hochziehen konnte. Er schwang seine Beine über das Fensterbrett und sprang leichtfüßig ins Zimmer.
Der Raum war natürlich menschenleer. Das Licht des zu drei Viertel vollen Mondes strömte durch das große Fenster herein.
Und dort auf dem Schreibtisch lag das Stück Papier, das die Antwort auf die Frage nach Wills Zukunft enthielt. Genau dort, wo der Baron es liegen gelassen hatte. Nervös blickte Will sich um. Der riesige Lehnstuhl des Barons ragte wie ein stiller Wachposten hinter dem Schreibtisch auf. Die anderen Möbelstücke waren nur in Umrissen zu erkennen. Von einem Porträt an der Wand starrte ihn ein Vorfahre des Barons vorwurfsvoll an.
Will schüttelte diese albernen Gedanken ab und durchquerte schnell das Zimmer. Seine weichen Stiefel machten kein Geräusch auf den Dielenbrettern. Das Stück Papier, strahlend weiß im Mondlicht, befand sich nun in seiner Reichweite. Nur einen Blick darauf werfen, es lesen und wieder verschwinden, sagte sich Will. Das war alles, was er tun musste. Er streckte seine Hand danach aus.
Seine Finger berührten es.
Da schoss eine Hand aus dem Nichts und packte ihn am Handgelenk!
Will schrie vor Schreck laut auf. Das Herz rutschte ihm in die Hosentaschen und er sah in die kühl blickenden Augen von Walt, dem Waldläufer.
Woher war der nur gekommen? Will war überzeugt gewesen, dass niemand sonst im Raum war. Und er hatte auch kein Geräusch einer sich öffnenden Tür gehört. Dann erinnerte er sich daran, wie der Waldläufer sich in diesen merkwürdigen graugrünen Umhang hüllen und anscheinend mit dem Hintergrund völlig verschmelzen konnte, bis er praktisch unsichtbar war.
Nicht dass es darauf ankam, wie Walt es gemacht hatte. Das eigentliche Problem war, dass er Will hier im Studierzimmer des Barons erwischt hatte. Und das war das Ende jeglicher Hoffnungen, die Will je gehabt hatte.
»Dachte mir schon, dass du so etwas versuchen würdest«, sagte der Waldläufer leise.
Will, dessen Herz immer noch vor Schreck raste, sagte nichts. Er ließ beschämt den Kopf hängen.
»Hast du irgendetwas zu sagen?«, fragte Walt. Will schüttelte den Kopf. Er wollte nicht aufsehen und diesem dunklen, durchdringenden Blick begegnen. Walts nächste Worte bestätigten Wills schlimmste Befürchtungen.
»Nun, dann wollen wir mal sehen, was der Baron davon hält.«
»Bitte … nicht …« Doch Will verstummte sofort wieder. Es gab keine Entschuldigung für das, was er getan hatte, und das Wenigste, was er tun konnte, war, seine Bestrafung wie ein Mann auf sich zu nehmen. Wie ein Krieger. Wie sein Vater!
Der Waldläufer betrachtete ihn einen Moment lang. Will meinte, ein kurzes Aufflackern von… was? … etwa Anerkennung? … zu sehen. Dann wurde Walts Blick wieder ausdruckslos.
»Nicht was?«, fragte er kurz nach. Will schüttelte den Kopf.
»Nichts.«
Der Griff des Waldläufers um sein Handgelenk fühlte sich an wie eine Eisenklammer, als dieser Will aus der Tür und auf die breite gewundene Treppe nach oben zu den privaten Wohngemächern des Barons führte. Die Wachen vor der Tür sahen den ernst dreinblickenden Waldläufer und den Jungen neben ihm überrascht an. Auf ein kurzes Zeichen von Walt hin traten sie beiseite und öffneten die Türen zum Gemach des Barons.
Der Raum war von Kerzen erleuchtet und einen Moment lang blickte Will sich verwirrt um. Er war sicher gewesen, dass die Lichter in diesem Stockwerk ausgegangen waren, während er im Baum gewartet und alles beobachtet hatte. Dann sah er die schweren Vorhänge vor dem Fenster und verstand. Im Unterschied zu dem
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