Die Runen der Macht - Der verfluchte Prinz (German Edition)
stachelig sein wie ein Wüstenkaktus, aber sie ist auch die mächtigste Waffe gegen den Geist.«
»In Ordnung.«
Mit echter Erleichterung wandte er sich nach achtern.
»Merrick.« Das Zittern in ihrer Stimme und die Verwendung seines Namens ließen ihn innehalten. »Was werdet Ihr tun?«
»Das, was ich am besten kann.« Er lächelte breit und stieg die erste Stufe hinauf. »Beobachten.«
Sorcha gefiel der Wachhund nicht, den Merrick auf sie angesetzt hatte. Diese großen braunen Augen folgten ihr, als sie in der Kajüte des Prätendenten auf und ab ging. Eingeschlossen zu sein mit nichts weiter als einem Mädchen, an dessen Nerven die Anwesenheit der Diakonin spürbar zehrte, war erniedrigend. Sorcha wurde klar, dass sie Merrick falsch eingeschätzt hatte: Er war ein Intrigant. Ein Abkommen mit dem Prätendenten zu treffen war sicher nur der Anfang vom Ende. Wenn man die Sensiblen nicht im Auge behielt, konnten sie leicht glauben, sie seien der Boss in einer Partnerschaft und die Aktiven seien nichts weiter als ihre Waffen.
Sorcha ging zum Fenster und schaute in den dunkelnden Himmel. Die Nacht senkte sich über das Schiff, und trotz allem dachte sie mit einem Schaudern an das Meeresungeheuer. Es hatte sicher genug vom Leben an der Wasseroberfläche gehabt, aber wenn die Unlebenden in eines dieser Monster fahren konnten, vermochten sie sich gewiss auch weiterer zu bemächtigen. Diese Erkenntnis war so beunruhigend, dass sie über ihren scharfäugigen Partner an Deck froh war. Doch Sorcha konnte nichts weiter tun, als auf und ab zu gehen und sich beobachtet und unwohl zu fühlen.
Sie lief eine Weile auf verschiedenen Decks herum und fühlte sich so hilflos wie seit Jahren nicht mehr. Als sie in die Kabine zurückkehrte, wurde ihr klar, warum.
Als Mitglied des Ordens hatte Sorcha ihre Handschuhe immer in Griffweite gehabt. Aber sie waren noch nie von Meerwasser durchtränkt gewesen, und so hatte sie sie an dem kleinen Ofen trocknen lassen. Und durch die einen Spaltbreit geöffnete Tür sah Sorcha nun etwas, das sie erstarren ließ.
Nynnia berührte die Talismane zwar nicht – das wäre gefährlich gewesen –, aber ihre Fingerspitzen huschten über sie hinweg. Neugier war vielleicht verständlich, doch ihre Worte waren es nicht. Sie rezitierte die Litanei der Herrschaft. Mit leiser Stimme wiederholte sie die Worte, die ein Eingeweihter in seinen ersten Jahren im Orden lernte.
Aydien
hält meine Feinde in Schach.
Yevah, mein mächtiger Schild aus Feuer.
Tryrei, ein Guckloch in die Anderwelt.
Chityre, die Macht des Blitzes in meiner Faust.
Pyet, die reinigende Flamme, die alle verzehrt.
Shayst, die Stärke meiner Feinde ist meine Stärke.
Seym macht mich zu mehr, als ich bin.
Voishem, keine Mauer kann mich halten.
Deiyant, alles bewegt sich nach meinem Willen.
Teisyat, die Tür zu ihrer Welt, die ich nicht zu öffnen wage.
Die Diakonin konnte diesen Hohn nicht länger ertragen. »Du kennst die Worte, Kind.« Sorcha kam herbei und riss die Handschuhe an sich. »Aber du solltest dich nicht in die Angelegenheiten des Ordens einmischen.«
Nynnia lief dunkelrot an und huschte zurück auf ihre Seite der Kajüte. »Vergebt mir. Ich habe diesen Gesang bloß im Kloster gehört.« Sie griff nach den Socken, die sie für den Kapitän stopfte, und schwieg für den Rest des Abends.
Obwohl ihre Erklärung plausibel war, beunruhigte sie die Diakonin. Was, wenn Nynnia mehr war als nur eine Fremde, der sie zufällig begegnet waren? Sorcha schüttelte den Kopf. Nein – falls mit Nynnia etwas nicht stimmte, hätte Merrick es sicher gesehen. Die Welt war bereits kompliziert genug.
Sorcha tat ihr Bestes, um ihre schweigsame junge Gefährtin zu ignorieren. Wenn der Prätendent ihnen schon seine Kabine überlassen hatte, sollte sie diese einmalige Gelegenheit, ein wenig herumzuschnüffeln, nicht versäumen. Auf dem Tisch lagen verschiedene Seekarten ausgebreitet, an denen sie nicht viel Interessantes entdecken konnte. Die Kajüte war spärlich eingerichtet, und nur eine alte Seemannskiste und ein großes, ledergebundenes Tagebuch, das zwischen Sitz und Rückenlehne eines abgewetzten Sessels gerutscht war, weckten ihre Neugier.
Den Kopf schräg gelegt, dachte sie nach. Die Rechte wanderte zu ihren Handschuhen, während die Linke über den punzierten Einband fuhr. Sie zog sich eine Nadel aus dem Haar und machte sich an dem großen Messingschloss des Tagebuchs zu schaffen. Die Seemannskiste mochte Schätze enthalten,
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