Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
musste Fraine jahrelang mit Hass gefüttert haben, einem Hass, der sie jetzt alle zu verschlingen drohte.
Also kämpfte Raed sich auf die Knie und rechnete sich seine Chancen aus. Sein Körper schmerzte von den Tritten und Hieben, die er vergangene Nacht eingesteckt hatte; es waren tiefe Prellungen, die eine Weile brauchen würden, um zu heilen. Er hatte jedoch darauf geachtet, was die entzückenden Frauen in der letzten Nacht gesagt hatten, und fragte sich, ob er überhaupt eine Chance bekommen würde, zu genesen. Er musste einfach so weitermachen, als wäre es so.
Irgendwo da draußen war ein Joker, eine Karte, mit der Zofiya, Tang oder seine Schwester nicht rechneten – Diakonin Sorcha Faris. Er hatte schon früher sein Vertrauen in sie gesetzt, und sie hatte ihn nicht enttäuscht. Raed stand auf und drückte das Ohr an die Schranktür. Ein unheilvolles Singen, leise und tief und aus vielen Kehlen, war alles, was er hörte. Es spielte keine Rolle, ob es für Götter oder Geister war, Gesang war nie ein gutes Zeichen. Doch es gab keine Klinke, die er hätte drücken können, nichts sonst im Schrank, was sich als Waffe benutzen ließ, und die Wände waren aus massivem Stein.
Gerade als er überlegte, mit der Schulter gegen die Tür zu rennen, rissen zwei chiomesische Wachen sie auf und zogen ihn ins Licht hinaus. Jetzt konnte Raed die Schönheit und den Schrecken des Tempels der Hatipai auf sich wirken lassen. Seine Laune wurde dadurch nicht besser.
Wie es die Natur ihrer Art war, dominierte Hatipai den Tempel. Kein anderer Schmuck lenkte von dem riesigen Relief der Göttin ab, das sich um die Wände wand. Ihr ausgestreckter Körper ähnelte nichts so sehr wie einer Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biss. Ihr wellenförmiger Hals trug die Darstellung ihres Kopfs die Treppe hinauf, sodass ihr verzerrtes Gesicht auf der obersten Stufe ruhte. Ihr offener Mund war wie eine Leere, und ein eisiger Windhauch quoll daraus hervor. Raed war kein Experte, aber er hatte sich immer vorgestellt, dass der Gegenstand der Verehrung in einem Tempel lieblich sein und Trost spenden oder Ehrfurcht wecken sollte. Dies sah aus, wie etwas aus einem verrückten Traum.
Die Bürger von Orinthal schienen das nicht so zu sehen. Sie standen dicht gedrängt in dem Gebäude. Eltern hatten ihre Kinder auf den Schultern, damit sie besser sehen konnten. Raed hatte nicht so viel Glück. Alles, was er erlebte, war das Stoßen und Johlen des Mobs. Einige Leute schafften es, ihm Fausthiebe zu versetzen, sodass er, bis er an den Fuß der Treppe gezerrt war, reichlich neue Schmerzen hatte.
Weil eine der Schnittwunden an seinem Kopf wieder aufgegangen war, sah er durch einen Blutschleier, als er den Blick hob. Zofiya und ein alter Mann erwarteten ihn oben an der Treppe, und hinter ihnen glänzte ein Gerät im Fackellicht. In seiner Kindheit hatte Raed einen seiner Spielkameraden dabei ertappt, im Obstgarten ein Kaninchen zu zerlegen. Der Junge hatte die Pfoten des armen Tiers festgenagelt und schlitzte es mit der Sorgfalt eines Chirurgen auf. Doch das Kaninchen war noch bei Bewusstsein gewesen.
Als er jetzt zu dem metallischen, x-förmigen Gerät aufblickte, das mit Wehrsteinen bestückt war, erinnerte Raed sich lebhaft an die weißen, panischen Augen des Kaninchens und hörte wieder den seltsamen Schrei, den es ausgestoßen hatte. Er fragte sich, ob er das gleiche Geräusch machen würde, wenn sie ihn dort oben hatten und mit ihrer Vivisektion begannen. Zofiya hatte Fraine versprochen, dass es wehtun würde. Es sah aus, als würde sie Wort halten.
Der Tod fand ihn nicht. Merrick stand keuchend in der Dunkelheit und versuchte, seine Ruhe wiederzufinden.
Die Wachleute lagen tot zu seinen Füßen, aber er hatte immer noch die Mission, seine Mutter zu finden. Mit einigen tiefen Atemzügen bückte Merrick sich zu Boden und suchte tastend nach dem weggeworfenen Gewehr eines Wachmanns. Mit Flinte und Schwert bewaffnet, öffnete er im Stehen langsam sein Zentrum. Auch jetzt spürte er nichts von dem Angreifer in der Dunkelheit. Es konnte weder Geist noch Mensch sein, denn die hätte er wahrgenommen – was also dann? Ihm schwirrte der Kopf.
Wenn er den Angreifer weder finden noch sehen konnte, musste er weitergehen oder vor Angst erstarrt bleiben, während seiner Mutter schreckliche Dinge zustießen. Sein Zentrum strömte von ihm aus und suchte nach ihr. Sie war da … in der Dunkelheit, nicht mehr fern – aber da waren noch andere. Menschlich.
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