Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
es vielleicht Schmerz genannt. Ihre zerbrechliche Gestalt war noch nicht körperlich, und nur der Glaube würde sie stärken.
Ihn zu finden, war viel schwieriger, als Hatipai gedacht hatte. Vor dem Bruch und dem Eintreffen weiterer ihrer Art hatten sie und einige wenige Auserwählte diese Welt ganz für sich gehabt. Sie waren die Stärksten gewesen, imstande, zwischen den Welten zu wandern, bevor es einen Riss gab. In der Anderwelt herrschte ein beständiger Wettstreit – und wenn sie hier gezwungen sein sollte, mit jemandem in Wettstreit zu treten, dann würde sie es tun. Mit aller Macht.
Während Hatipai hoch oben zwischen den Wolken dahinglitt, war ihre Wahrnehmung ausgedehnt, ein Netz, das nach Glauben suchte. In Vermillion konnte sie nicht lange bleiben – nicht, solange die Mutterabtei die Stadt kontrollierte. Wenn sie Blut, Knochen und Haut von dort nahm, konnten die Konsequenzen tödlich sein.
Schließlich spürte Hatipai ein Ziehen von unten. Es war schwach, unwahrscheinlich schwach, aber es war da. Glaube. Der Engel legte die goldenen Flügel an und fiel. Vier kleine Leben unten schauten auf und beteten zu der Strahlenden. Sie konnten nicht wissen, was eine Erscheinung ihrer Göttin wirklich bedeutete. Sie würden es erfahren.
Mauern, Türen und Schlösser spielten für Hatipai keine Rolle – denn in diesem Moment hatte sie keinen Körper. Eine Familie betete in der engen Kabine ihres kleinen Schiffs, das im Stadthafen festgemacht hatte: Mutter, Vater und zwei Jungen an der Schwelle zum Mann – ein appetitliches Grüppchen.
Auf den Knien flüsterten sie einer kleinen Hatipaistatue die geheimen Namen dieser Göttin der Weisheit und Stärke zu, die als vollbrüstige Frau mit ausgebreiteten Flügeln und einem seligen Lächeln dargestellt war. Sie verspürte nicht den geringsten Anflug von Mitgefühl; diese Sterblichen existierten nur, um sie mit dem zu versorgen, was sie brauchte.
Hatipai begann zu glühen, und die Familie schaute auf, als ihre kleine Kabine sich mit Licht füllte. Ihre einfachen, fleischigen Gesichter verklärten sich.
»Große Dame«, flüsterte die Mutter, und ihre Augen wurden feucht, »all diese Jahre haben wir gebetet – unsere Mütter und Väter, deren Mütter und Väter, und nichts …« Jetzt weinte sie Tränen der Ergriffenheit und Freude darüber, dass ihr Glaube endlich bestätigt worden war.
Es war eine normale Reaktion. Die Familie kroch vor ihr, wie es recht war. Hatipai erinnerte sich an große, bis zum Bersten mit reuigen Sündern gefüllte Kirchen, an die Lieder, die Opfer und den schweren Duft von Weihrauch. Damals war sie wahrhaft mächtig gewesen, die Größte unter ihresgleichen. Und das war nun aus ihr geworden. Doch wenn ihre Pläne Erfolg hatten, würde sich das ändern.
Sie schaute durch flammende Augen auf sie hinab und erwog den Wert ihres Fleisches für ihre Bedürfnisse.
»Oh, Strahlende« – der Mann, immer noch auf den Knien, legte seinen Söhnen die Arme um die Schultern – »segnet meine Kinder mit Eurem heilenden Licht.«
Das war es. Sie waren jung, stark, voller Glauben und Inbrunst. Sie waren genau das, was Hatipai brauchte. Sie breitete weit die zarten, ätherischen Glieder aus, und ihre Flügel schwangen hoch, um den ganzen Raum der Kabine einzunehmen. »Das werde ich wahrhaftig.« Ihre Stimme umfing sie wie Glockenklang.
Der jüngere Knabe lächelte ehrfürchtig, als sie sich vorbeugte, um ihn zu berühren. Hatipais ätherischer Körper durchstieß ihn, und sofort schrie der Junge auf. Es war ein reines, melodisches Geräusch und nicht von Dauer. Hatipai nahm seine Knochen, beschaffte sich die Zutaten, aus denen sie entstand, während er auf dem Boden zusammenbrach, ein Sack Fleisch, seiner Struktur beraubt.
Die drei Übrigen stießen kehlige Laute der Panik aus wie Vieh, das endlich die Absicht des Schlachters roch. Doch Familienbande hinderten sie daran, sofort vor ihr zu fliehen. Während die Mutter zu den Resten ihres Kindes eilte, trat Hatipai vor, um ihre nun stärker gegliederten Arme um den anderen Jungen zu legen. Der versuchte wegzulaufen. Seine leuchtend blauen Augen weiteten sich in blankem Schrecken. Er riss sich aus dem schützenden Griff seines Vaters und sprang zur Tür.
Sie war schneller. Als ihre Flügel sich um ihn schlangen, heulte er auf und spürte, wie die Schärfe ihrer Macht jeden Muskel und jede Sehne durchstieß. Hatipai saugte sie gierig auf, zog seine Gestalt mit einem Geräusch in sich hinein, das
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