Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
hinabschaute, sie sah es nicht. Sorcha wollte jetzt dort sein und die Stadt nicht von oben betrachten.
Ihr war durchaus klar, dass Ungeduld zu ihren Fehlern zählte. Als junge Anfängerin in der Abtei hatten ihre Lehrer sie wiederholt darauf hingewiesen – manchmal mit Rutenhieben auf die offene Hand. Sie hatten sie jedoch nie kurieren können – so wenig wie die Jahre.
Obwohl sie das Reich in nur einer Woche auf einer Reise durchquert hatten, die zu Pferd Monate gedauert hätte, kam ihr das lächerlich langsam vor. Zumindest forderte einen das Reiten körperlich; gefangen in dem Luftschiff, hatte sie die vergangene Woche damit verbracht, meilenweite Wolkenbänke zu betrachten.
Also versuchte sie, sich an der Stadt dort unten zu freuen. Es war schon viel wärmer als in Vermillion. Im Norden machte der Frühling gerade dem Sommer Platz, aber in Chioma hielt er das Land bereits in einem heißen, klebrigen Griff. Sorcha wischte sich kleine Schweißperlen von der Stirn. Sie waren noch nicht gelandet, aber sie wusste schon, dass dieses Königreich sie leiden lassen würde.
Kapitänin Revele ließ sie langsam in die Hafenstadt einlaufen und wollte damit wahrscheinlich Merrick beeindrucken – oder ihn noch etwas länger an Bord des Luftschiffs halten. Reveles Gefühle für Sorchas Partner gingen jedoch anscheinend direkt an ihrem Ziel vorbei. Er hätte mit der Kapitänin eine Woche lang Spaß haben können, zumindest bei Nacht – doch er hatte die Gelegenheit nicht genutzt. Sorcha fand das merkwürdig. Wie die meisten Diakone war Merrick von Kindesbeinen an im Orden gewesen, aber irgendwie hatte er einen entscheidenden Teil des Erwachsenwerdens verpasst, der selbst innerhalb der Abtei nicht an ihm hätte vorbeigehen müssen. Er hatte überhaupt keine Ahnung von seiner Wirkung auf Frauen, und Vyra Revele konnte nichts sagen, weil ein Diakon streng genommen höher in der Befehlskette stand als sie.
Wie von Sorchas schweifenden Gedanken gerufen, kam Kapitänin Revele aus dem Steuerstand, rückte ihre Jacke mit einer scharfen, vielsagenden Geste zurecht und schritt auf sie zu.
»Wir landen gleich.« Ihre Stimme war fast so diszipliniert wie die eines Diakons. »Die Marine hat hier nur einen kleinen Luftschiffhafen, aber wir haben Befehl, auf Eure Rückkehr zu warten.«
Merrick – immer noch gefangen von dem Anblick unter ihm – erwiderte nichts. Sorcha tippte ihm ans Bein, und er fuhr hoch. »Vielen Dank, Kapitänin.«
Vyra Revele schenkte ihm ein gepresstes Lächeln und kehrte auf ihren Posten zurück. Die Mannschaft brachte die
Sommerhabicht
mit absoluter Präzision herunter – selbst Raed hätte es kaum bemerkt, als sie schließlich landeten. Die Erinnerung an die Nervosität des Jungen Prätendenten auf dem Luftschiff war so erheiternd wie schmerzlich. Sorcha war es gewohnt, frei und selbstständig zu sein, und doch war sie hier und jagte einem Mann nach. Was hätte Kolya gelacht.
Die Bodenmannschaft eilte herbei, um das Luftschiff zu sichern, und die Matrosen an Bord warfen Seile herunter. Schließlich war die
Sommerhabicht
so gut festgezurrt wie eine Fliege in einem Spinnennetz. Rampen wurden ausgelegt, und die Passagiere gingen von Bord.
Die Diakone stiegen als Erste aus und warteten darauf, dass die Delegation sich ordnete. Der gnadenlose Bandele trieb seine Männer mit Zurufen an, während sie mürrische Esel und zornige Ochsen aus dem Frachtraum holten. Sorcha wusste, dass sie sich wahrscheinlich die Nägel abkauen würde, wenn sie die ganze schmerzhafte Prozedur der Aufstellung der Karawane beobachtete. Also schlenderte sie stattdessen für eine Weile davon, während Merrick mit Kapitänin Revele sprach. Seine Gedanken waren Sorcha jedoch unzugänglich, und darum konzentrierte sie sich auf ihre Umgebung.
Auf den ersten Blick sah Orinthal nicht anders aus als jede andere Stadt im Reich, die Sorcha auf ihren Reisen gesehen hatte. Der Luftschiffhafen war der einzige im Fürstentum und lag am Rande des Hafengebietes. Segel- und Ruderboote hoben und senkten sich auf dem dunklen Wasser des Saal-Flusses wie Insekten. Als sie sich dann nach Westen wandte, gewahrte sie das, wofür die Stadt bekannt war: die hohen, kegelförmigen Lehmbauten, aus denen der Ort bestand. Sie waren aus der roten Erde der Hügel erbaut, mit unglaublichen Details verziert und der Grund für den anderen Namen der Stadt: Bienenkorb. Bei Sonnenuntergang schienen sie wie Glut zu leuchten. Es regnete selten in Orinthal, aber wenn, so
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